No Action & Amid The Old Wounds – „Split 7inch“ (time as a color u.a.)

Ein DIY-Schmankerl der Extraklasse gibt’s in Form dieser schönen Split 7inch, von der absolut jedes Exemplar ein Unikat ist. Als Cover dient das Textblatt und ein liebevoll per Hand abgerissenes und gefaltetes schwarzes Blatt, das muss man erstmal so gekonnt abreißen, dass eine halbwegs saubere Kante entsteht. Die 7inch selbst und die weiße Plattenhülle sind per Hand gestempelt, das schicke Ding läuft auf 45 RPM und die zwei Seiten sind jeweils mit dem Anfangsbuchstaben der zwei Split-Partner versehen, es gibt also weder eine A- noch eine B-Seite. Und am Release ist neben time as a color eine ganze Latte an DIY-Labels beteiligt, hier die Liste: Rufen Publishing, Magic Hour, Softseed Music, strictly no capital letters, Polar Summer und Salto Mortale Music. Auf dem Textblatt können alle Texte nachgelesen werden, zudem gibt es noch Infos zu Aufnahme und Produktion. Wer sich gern ein Video zur Bastelei des Kunstwerks ansehen möchte, kann das hier tun! Da steckt wirklich viel Arbeit und Herz drin! Ach ja, und ein Downloadcode-Kärtchen purzelt auch noch aus der 7inch-Verpackung heraus!

Insgesamt gibt es vier Songs zu hören, alle Beteiligten steuern jeweils zwei Songs bei. Und die erste fette Überraschung gibt es von der australischen Band No Action, die mir unerklärlicherweise bisher komplett durch die Lappen gegangen ist. Dabei hat das Quartett bereits einige tolle Veröffentlichungen in petto und erobert direkt beim ersten Durchlauf mein Herz! Die zwei Songs haben so viel Kraft und Melancholie in sich und dürften allen 90’s-Midwest-Emocore- und Indierock-Fans ein zufriedenes und breites Lächeln ins Gesicht zaubern. Die Gitarren rotieren wild schrammelnd, während der Bass eigenwillige Knödeltöne fabriziert, flottes Drumming und dazu der Gesang, der sehnsuchtsvoll und eindringlich wirkt. Schön treibend und etwas lauter als Amid The Old Wounds sind die Jungs von No Action unterwegs, dennoch mit einer satten Portion Melancholie. Auch der zweite Song Monument To Taste hat diese dissonanten und gefühlvoll gezockten Gitarren und diesen warm klingenden Bass, hier ist aber mehr Ruhe drin und eigentlich ist man schon ein bisschen traurig, dass die Songs so schnell schon wieder vorbei sind. Fans von Bands wie Boys Life, Mineral, Moss Icon, The Ivory Coast, The Hated, Couch Potatoes oder der ersten Appleseed Cast-Sachen sollten das hier unbedingt anchecken.

Amid The Old Wounds aka Daniel Becker hat ebenfalls zwei Songs am Start, die genauso intensiv klingen, wie man es von ihm und seinen bisherigen Veröffentlichungen gewohnt ist. Jede Menge Melancholie und Schwermütigkeit ist da wieder mit an Bord. Der Song Hypothetically Speaking II eröffnet die Amid The Old Wounds-Seite mit einer gefühlvoll gespielten Gitarre, die erstmal bis fast zur Hälfte des Songs ohne Gesang auskommt, bis dann endlich die warme und zerbrechliche Stimme von Daniel dem Song zusätzlich emotionsgeladene Stimmung einhaucht. Übrigens gibt es diesen Song auf keiner Internet-Plattform als Stream zu hören, was ja im heutigen, extrem klimafeindlichen Streamingzeitalter ein schönes Statement darstellt. Beim zweiten Stück The Unvited gefällt dann das Spiel und das Experimentieren mit mehrstimmigem Gesang und unterschiedlichen Tonlagen, das verleiht dem Song nochmals eine ganz andere, fast hymnische Stimmung und hat schon einen gewissen Ohrwurmcharakter. Ein großartiger Emo-Song! Schade nur, dass beide Seiten so schnell wieder vorbei sind! Sehr schönes Release!

9/10

Bandcamp / time as a color


Eat My Fear – „New Era“ (Refuse Records & Emancypunx Records)

Oh wie lang ist es her, dass Euro-Hardcore-Punk politische Inhalte hatte? Ja, da erinnern wir uns gerne an die späten 80er und die frühen 90s, große Szene-Namen wie Nations On Fire, ManLiftingBanner, Seein‘ Red oder Miozän kommen da direkt in den Sinn, feministische und queere Diskriminierungen waren zu der Zeit auch schon Themen. Und Eat My Fear erinnern mich mit ihrem Debutalbum und ihrem leidenschaftlichen In-Die-Fresse-Hardcore genau an diese Ära, die mich so tief geprägt hat!

Angefangen vom Wimmelbild-Albumartwork der 12inch, das voll mit Bannern und Slogans die derzeitige Gesamtscheiße anprangert über Songtitel wie Queer Punk Revolution oder Beyond Binaries bis hin zu den im aufklappbaren Lyric-Sheet ausgesprochen kämpferischen Texten, das hier packt mich total! Die Spoken Words zu Beginn der A-Seite sind natürlich auch ’ne Ansage, die lange fällig war! Keine Ahnung, woher das Zitat kommt, aber zum Thema könnte eine Lektüre des Buchs von Katharina Wiedlack: Queer-Feminist Punk. An Anti-Social History ein paar Einblicke ermöglichen. Immer wieder wird in den Texten zu Solidarität und Widerstand aufgerufen, das Umdenken in Sachen Kapitalismus und partriarchalischen Machtstrukturen erörtert, der stete Kampf gegen die Gentrifizierung und der Zerstörung wichtiger subkultureller Orte sind ebenfalls Themen. Dass der Kampf dagegen wichtig für die Hardcore/Punk-Szene ist, zeigt die Tatsache, dass während bzw. nach der Covid 19-Pandemie etliche Plätze verschwunden sind, nicht nur in Berlin. Die 12inch ist übrigens als Co-Release der Labels Refuse Records und Emancypunx Records erschienen.

Jedenfalls: Die Wut, die Spannung, die Verzweiflung, die permanetnen Verletzungen im alltäglichen Leben, das alles lässt sich hier mit Haut und Haaren spüren! Gerade auch, weil die Sängerin so hasserfüllt, verzweifelt hyperventilierend und emotional abgeht. Die Gitarren rotieren wie wild, die Drums prügeln ordentlich, der Bass poltert wie die Hölle und überhaupt sprudelt der Sound nur so vor Power und Energie. Girls to the front! Zieht euch das hier unbedingt rein, natürlich mehrfach und mit ausreichender Lautstärke!

8/10

Facebook / Bandcamp / Refuse Records


Refuse Records Label-Special: Change & Foresight

Change – „Closer Still“ (Refuse Records) [Stream]
Hatte neulich aufgrund des kürzlich besprochenen Schwach-Albums einen netten Kontakt mit Robert Matusiak, dem Betreiber des DIY-Labels Refuse Records. Robert kommt ursprünglich aus Warschau/Polen und ist mittlerweile in Berlin gestrandet. Ende der Achtziger/Anfang der Neunziger bzw. nach der Wende um 1989 herum keimte die Hardcore-Punkszene in Polen auf, damit war auch der Grundstein für Roberts Szene-Aktivitäten gelegt. 1993 startete er mit Mailorder und Fanzine durch, dann kamen während dieser Aktivitäten logischerweise viele Kontakte zustande. Das führte schließlich zur Geburt des Labels Refuse Records, das im Jahr 1996 erste Tape-Veröffentlichungen am Start hatte, 1998 kamen erste CD-Releases heraus. Der Schwerpunkt wurde dabei explizit auf Hardcore gesetzt, dabei spielte auch Straight Edge und auch die polnische Hardcoreszene eine große Rolle. Soviel mal zu den Basics des Labels. Okay, aber jetzt mal zur Band Change, die ihr Debutalbum bereits im Jahr 2020 veröffentlicht hat. Geil, dass ich das Ding jetzt noch in der CD-Version zum Besprechen bekommen habe. Bei Change sind Leutz dabei, die man aus den Bands Betrayed, The First Step, Union Of Faith, Keep It Clear und Odd Man Out her kennt. Und ja, dementsprechend rund klingt das Debutalbum der Band aus USA und Kanada. Durchweg abwechslungsreich kommen die dreizehn Songs daher. Und mit einer Energie, die mich direkt unter Strom setzt! Schnelle Highspeed-Passagen wechseln sich mit schleppenden Parts, dazwischen immer wieder dieser prägnante und gegenspielende Bass und die messerscharfen Gitarren, die emotional aus dem Ärmel gespielt werden. Da glüht die pure Spielfreude! Und dazu natürlich der Gesang, der von aggressiv bis clean alle Emotionen parat hat, Gangshouts sind auch mit an Bord und wäre das nicht schon alles verdammt rattenscharf, dann darf auch hin und wieder eine Melodie durchschimmern. Wow! Ach ja, und auch die Lyrics sollte man nicht unbeachtet lassen, die sind auch alle schön brav im Booklet abgedruckt. Also, wenn ihr irgendwie mal wieder Bock auf richtig freshen Youth Crew Hardcore á la Speak714, Uniform Choice, Heckle, frühe Ignite, Turning Point habt oder Fans der bisherigen Bands der beteiligten Mitglieder seid, dann solltet ihr das hier richtig fett abfeiern! 9/10


Foresight – „In Search Of Understanding“ (Refuse Records) [Stream]
Dieses Plattenpaket aus dem Hause Refuse Records hat es echt in sich! Mit Foresight lerne ich nämlich jetzt eine Band kennen, die mir zuvor gänzlich unbekannt war. Und ja, Foresight packt mich direkt am Kragen! Die fünf Jungs kommen aus Krakau/Polen und der Ukraine und sind seit 2017 unterwegs, vor dem Debutalbum ist im Jahr 2019 eine EP erschienen. Und alle beide Releases sind auf der mir vorliegenden CD enthalten! Yeah, Jackpot! Musikalisch gibts hier energiegeladenen Straight Edge-Hardcore mit fetten Gitarren, kraftvoll gehauenen Drums und mächtig viel Groove und aber auch reichlich unterschwellige Melodie auf die Ohren. Die Jungs haben sicher einige Platten von Snapcase, Strife, Earth Crisis, Mouthpiece, Profax, Temperance, Blindfold oder Outspoken im Regal stehen! Energie pur, ich würd die Faust im Pit empor recken und mich sogar zu ein paar Brustklopfern hinreißen lassen, ohne Scheiß! Die Lyrics (vorwiegend in englischer Sprache, teils auch in der Landessprache) sind im Booklet abgedruckt. Neben typischen Straight Edge-Themen und persönlichem Struggle gibt’s natürlich auch jede Menge Gesellschaftskritik. Geht geil rein, wenn man auf 90’s Emo-Mosh-Straight Edge mit metallischer Kante steht! Verdammt geil! Da fühlt man sich direkt wieder jung und waghalsig! 9/10


Bandsalat: Amber Daybreak, Distante, Mis Sueños Son De Tu Adiós, Burial Etiquette, Static Dress, Verrat, Ways Away

Amber Daybreak – „Sentinels“ (Tomb Tree Tapes) [Name Your Price Download]
Dieses Re-Release des Labels Tomb Tree Tapes ist die absolute Wucht. Amber Daybreak kamen aus Belgien und existierten zwischen 2006 und 2010 und machten absolut zeitlosen, mitreißenden und verzückenden Post-Hardcore mit Screamo- und Emo-Einflüssen. Das Re-Release hat ein neues Artwork spendiert bekommen und ich bin absolut glücklich, da mir die Band wirklich bis dato gänzlich unbekannt war, obwohl hier ein Mitglied der Band Chalk Hands mitwirkte. Die Gitarren erinnern mich desöfteren an Thursday zur Full Collapse-Phase, Fans von Bands wie Shirokuma, Raein, Adorno oder Via Fondo sollten das hier förmlich einatmen.


Distante – „Cada Acci​ó​n Cuenta“ (DIY) [Stream]
Auf der ersten EP der Band Distante aus Buenos Aires, Argentinien bläst euch ein frischer Wind um die Ohren. Die drei Herren und die Dame am Mikrofon legen eine wahnsinnig energiereiche Spielfreude vor, die sechs Songs zaubern euch garantiert ein fettes Grinsen in die Fresse, wenn ihr auf Youth Crew Hardcore stehen solltet und Bands wie Minor Threat, Infect oder Youth Of Today mögt. Dass hier keine Neulinge am Werk sind, dürfte klar sein. Bisherige Bands waren Justify, Dedication, Excuses, Reconcile und Trincheta. Gesungen wird in der Landessprache, in den Lyrics werden typische Straight Edge-Themen verarbeitet. Und ab in den Pit!


Mis Sueños Son De Tu Adiós & Burial Etiquette – „Split“ (Zegema Beach Records) [Name Your Price Download]
Woah, was für ’ne tolle Split mit zwei geilen Bands. Mis Sueños Son De Tu Adiós kommen aus Argentinien und waren mir bisher gänzlich unbekannt. Die drei Songs lassen mich sofort nach mehr lechzen, da gibt’s einiges nachzuholen. Wunderschöner emotive Screamo mit rotierenden Gitarren und billigen Gaming-Synthies, leidenschaftlich hyperventilierenden Vocals und jede Menge Emotion bekommt ihr hier auf die Ohren. Burial Etiquette aus Ontario waren mir bereits bekannt, sie schlagen musikalisch in die gleiche Kerbe. Hier kommt noch ’ne Stange Verträumtheit hinzu, was v.a. an den halb clean gespielten Gitarren und den cleanen Vocals liegt, schön im Kontrast zu der leidenden Schreistimme. Hatte die Band bisher krachiger in Erinnerung, gefällt mir aber trotzdem sehr gut!


Static Dress – „Rouge Carpet Disaster“ (Venn Records) [Stream]
Schon das Prologue-Album der Band aus England feierte ich an anderer Stelle ab, jetzt gibt es mit Rouge Carpet Disaster schon seit letzten Sommer den Nachfolger. Hier gibt es keine ellenlange Samples bzw. Zwischenspiele wie noch auf Prologue. Die Band hat zwölf Songs im Gepäck, die auch gut und gerne in die Zeit der Jahrtausendwende gepasst hätten, als Bands wie Thursday, Saosin, Chiodos oder Underoath ihre besten Tage hatten. Die Gitarren zwirbeln fett, der Sänger pendelt zwischen sehnsüchtigem Cleangesang und schmerzvollem Geschrei, dazu kommen auf den Punkt gespielte Drums und eine 1a-Produktion. Gefällt mir richtig gut!


Verrat – „Zeiten der Leere“ (Save The Scene Records) [Stream]
Die Band Verrat kommt aus Wien und zwirbelt auf ihrem zweiten Album ein ganz schön brutales Brett aus dem Ärmel. Irgendwo zwischen den Pfeilern Neo/Emocrust mit Blackmetal-Einflüssen, Hardcore und Crustpunk würde ich das hier einordnen. Das wutschnaubende und heisere Gebrüll kommt entweder in deutscher oder in englischer Sprache aus den Lautsprechern. Dabei ist es hilfreich, die Texte einzublenden, da man sonst schwere Not hätte, irgendetwas zu verstehen und die politischen Inhalte nachzuvollziehen. Dabei geht es immer schön nach vorne und die Gitarren werden auch hin und wieder mal unterschwellig melodisch. Wer Bands wie Tragedy, Dödsrit oder die ersten Sachen von Jungbluth abfeiert, sollte hier mal reinhören.


Ways Away – „Torch Songs“ (Other People Records) [Stream]
Und auch Album Nr. 2 strotzt nur so vor Energie, Emotionen und zuckersweeten Melodien, immer die Spielfreude und Leidenschaft im Gepäck. Die Band setzt sich ja bekanntlich aus alten Szenehasen zusammen, die genau wissen, wie der Hase läuft. Stick To Your Guns, Wish You Were Here, Samiam, Knapsack, Racquet Club, Boysetsfire oder The Hope Conspiracy sind große Namen, so dass man durchaus abgeschreckt sein könnte, ob das hier nur so ein halblebiges Nebenprojekt darstellen könnte. Das ist aber absolut nicht der Fall. Die Jungs haben ein brilliantes Album geschaffen, das keinerlei Langeweile aufkommen lässt.


Skeezicks – „Discography 1985-1987“ (Refuse Records)

Eigentlich wäre das hier ja ein astreiner Fall für die Rubrik „Mottenkiste“, aber tatsächlich ist dieses Re-Release – erstmals in dieser Form auf Vinyl – im Jahr 2021 erschienen. Die komplette Discography der von 1984 bis 1987 existierenden deutschen Hardcore-Punk-Band Skeezicks besaß ich bisher nur als Pappschuber-CD-Version (irgendwann um die Jahrtausendwende herum erworben), die einzelnen Releases hatte ich bis dahin Dank eines älteren Punks auf unserer Schule nur auf schlecht kopierten Tapes. Deshalb bekam ich mal richtig fett leuchtende Stielaugen, als neulich ein fettes Besprechungs-Paket aus dem Hause Refuse Records ins Haus flatterte und sich darin auch die Doppel-12inch der legendären Band aus Nagold befand. Nagold, eine Kleinstadt am Rande des Schwarzwalds, war Mitte bis Ende der Achtziger eine wichtige Anlaufstelle für internationale HC/Punk-Bands, gerade auch weil Armin – der Bassist der Skeezicks – tief in der Fanzine- und DIY-Mailorderszene verwurzelt war und mit X-Mist Records dann auch noch ein tolles Label am Start hatte. Jedenfalls bin ich total überrascht, dass dieses Re-Release ohne das Bemusterungs-Plattenpaket total an mir vorbeigegangen wäre, obwohl ich ja eigentlich Fan bin. Das wäre schon eine Katastrophe gewesen, denn allein die schöne Aufmachung der Doppel-12inch ist reiner Zucker: das Gatefold-Cover ist vorn mit der für die Band typischen Angry-Charly-Brown-Cartoonszene der There’s A Charlie Brown In Everyone Of Us-EP bedruckt, erstmals in Vollfarbe zu sehen. Die restlichen Gatefold-Flächen sind mit Live-Fotos bebildert, die einzelnen Releases sind auch aufgeführt. Und das absolute Sahnehäubchen gibt es dann in Form eines im 12-inch-Format 14-seitigen Textheftchens. Hier sind Fotos, Flyers, Lyrics, Linernotes und Stimmen bekannter Szenehasen abgedruckt, da bleiben keine Wünsche offen!

Wenn ich mich nicht verrechnet habe, dann sind hier insgesamt 42 Songs drauf zu hören. Und klar, mir selbst sind die Songs wie eingebrannt, damals Anfang der Neunziger war alles nicht so schnelllebig, da hörte man manche Tapes bis zum Erbrechen rauf und runter! Live konnte ich die Band leider niemals sehen, es gab meines Wissens auch nur eine einzige Reunion Anfang der Neunziger und davor war mein Aktionsradius in der oberschwäbischen Provinz einfach zu eingeschränkt. Und leider bekam die Band nie die Aufmerksamkeit, die ihr eigentlich als einer der ersten Bands aus Deutschland, die aus dem Punk eher Richtung US-Hardcore gingen, zugestanden hätte. Die Spermbirds hatten da irgendwie mehr Glück.

Jedenfalls ist das hier eine äußerst gelungene Zeitdokumentation. Die rohe Energie, die man vor allem auf den Demos und den Live-Aufnahmen zu hören bekommt, ist absolut unglaublich! Da hat man direkt Lust, das verwaschene Bandana in der Mützen-und Schal-Kiste zu suchen und einen Stagedive vom Sideboard oder Sofa aufs Bett zu machen! Lustigerweise habe ich diesen Satz geschrieben, bevor ich die Linernotes von Christian Unsinn (Take It Back) gelesen hatte, der übrigens wie ich selbst auch in der oberschwäbischen Provinz in kleinen Jugendzentren Punk-sozialisiert wurde. Oh ja, damals bebte es in jeder Kleinstadt, die ein eigenes Jugendzentrum mit DIY-willigen Leuten aus der Punk/Hardcore-Szene hatte. Ich bin wirklich froh, diese Zeit so intensiv erlebt zu haben, die Skeezicks hatten daran einen großen Einfluss. Auch lese ich gern Erlebnisse anderer aus dieser Zeit, Klaus N. Fricks Enpunkt z.B. oder auch die Fortsetzungsromane mit Peter Punk im Ox!-Fanzine lassen mich nostalgisch werden. Und selbst, wenn die Band in diesen Zeitdokumenten nicht namentlich benannt wird, habe ich beim Lesen immer dieses weiter oben erwähnte selbstbeschriftete Tape der Skeezicks vor Augen. Hach, da seht ihr mal, welch verschiedene und längst abgestorbene Gehirnhälften mit diesem Release doch Jahrzehnte später wiederbelebt werden! Neben internationalen Bands wie Discharge, Black Flag, Minor Threat, Negative Approach, Negazione oder Circle Jerks waren es vor allem deutsche Bands wie Spermbirds, Inferno, Hostages Of Ayatollah oder eben die Skeezicks, die uns durch den Sound und den Spirit, der mit Haut und Haaren gelebt wurde, mit dem Hardcore-Punk-Virus infizierte und bis heute tief in uns eingebrannt ist. Der Slogan Support Your Local Hardcore-Scene war mir schon immer sehr wichtig, Bands wie die Skeezicks haben diese Leidenschaft ausgelöst! Holt euch das Ding, das hier ist deutsche Hardcore-Geschichte!

10/10

Stream / Refuse Records


Neufundland – „Grind“ (Unter Schafen Records u.a.)

Als erstes hab ich mir echt Gedanken gemacht, warum die Kölner Band Neufundland ihr Album mit Grind betitelt hat und welche Bedeutung dahinter wohl stecken mag. Denn das Wort Grind hat mehrere Bedeutungen. Im schwäbischen Dialekt bedeutet Grind z.B. abschätzig Kopf, in der Medizin steht das Wort für Wundschorf, es gibt einen Skateboard-Trick namens Grind, und dann kann Grind aber auch für Zermürben, Zermahlen, Zerbröseln oder für sich Abrackern/Schuften stehen. Mittlerweile hat die Band verlauten lassen, dass Grind das Schlusskapitel der Band darstellt. Es wird noch einige Abschiedskonzerte geben, aber danach soll Schluss sein. Ob die Pandemie letztendlich diesen Entschluss der Musiker bewirkt hat, liegt nahe. Denn die Bandmitglieder verdienen neben ihrer Musik ihren Lebensunterhalt ebenfalls in kreativen Berufen, waren also von den Einschränkungen doppelt betroffen. Wenn man von diesem Hintergrund weiß, dann wird die Bedeutung des Albumtitels greifbarer, gleichzeitig ist man natürlich geschockt, dass so eine talentierte Band hinschmeißt. Während ihr das hier lest, ist auch schon die Abschiedstour Geschichte. Diese war im März 2023 und leider stand Süddeutschland nicht auf dem Tourplan.

Rein optisch ist das Gatefold-Albumcover ein farbenfrohes Spektakel: warme Orange-Töne, Sonnenuntergangs-Stimmung, Sahara-Staub, Blutmond. Der Klimawandel könnte ein Interpretationsansatz sein. Denn die Hitze bringt Gletscher zum schmelzen und lässt Statuen aus der Antike zerbröseln, zudem wird die Menschheit immer vertrockneter und verrückter. Womit wir bei den Texten angekommen sind, die allesamt im Innenteil zu lesen sind. Und diese sind auf dem dritten und letzten Album der Band erstaunlich persönlich und emotional. Unter anderem geht es um Einsamkeit, um Trennung, Verlust, Zweifel, Entfremdung, Schönheitswahn und den Ernst des Lebens (Schule, Lehre, Arbeit, Tod!) Ach ja, die Vinylscheibe selbst leuchtet in Anlehnung an das farbenfrohe Albumartwork in durchsichtigem Orange mit eingestreuten Rauchfäden und steckt in einer schwarzen Innenhülle. Soviel zur spitzenmäßigen Optik!

Musikalisch liefert die Band einen Hit nach dem nächsten ab! Insgesamt gibt es zehn Songs auf die Ohren, die sich schon nach wenigen Durchläufen tief in die Hörgänge eingefressen haben. Auffallend ist, dass die Band viel gitarrenlastiger als bisher unterwegs ist, was wohl am Ausstieg eines bisherigen Bandmitglieds und dem damit verbundenen Wegfall der Synthies und Keys liegen mag. Die Band kompensiert den Wegfall der Elektronik mit Angriff und kreativem Songwriting. So erfreut man sich desöfteren an diesen Gitarreneffekten, die fast schon verbogen und gummiartig rüberkommen (siehe z.B. Kein Scherz oder Nichts zu verstehen), zudem gibt es natürlich eine Menge catchy Refrains und einen spielfreudigen Bass. Hört euch mal das sprudelnde und melancholische Stück Streiflicht, oder den als Verbeugung vor der Band Tocotronic zu verstehenden Hit Vino an. Man könnte angesichts der Hitdichte geradezu traurig werden, dass es das jetzt mit Neufundland gewesen sein soll! Wer Bands wie Pabst, Klez.e, Mikrokosmos 23, Rong Kong Koma, Ja Panik oder Fotos mag, sollte hier unbedingt mal rein hören.

8/10

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Turnover – „Myself In The Way“ (Run For Cover)

Wahnsinn, wie anders die Band aus Virginia mit jedem neuen Release doch klingt! In Sachen Experimente und Soundspielereien haben die Jungs wohl eine feste Vorstellung, wie das alles am Ende werden soll. Ich empfehle daher, in Myself In The Way mit guten Kopfhörern und ohne störende Außenwelt einzutauchen! So hab ich das nämlich gemacht, als der vorab-Download auf der Festplatte zum Hören verlockte. Bin tatsächlich davon ausgegangen, dass dieses Album sicher nur digital und höchstens mit einer CD bemustert wird. Und jetzt schneit doch tatsächlich limitiertes Vinyl ins Haus, unglaublich! Und wie schick und stylisch die 12inch doch geworden ist: das Cover zeigt herausgestanzte geometrische Formen, aus den „Löchern“ schimmern von der darunter liegenden Innenhülle bunte und funkelnde Edelsteine hervor, wenn man das Ding richtig rum eingesteckt hat. Verkehrt herum eingelegt, ergibt es eine witzige Collage. Sehr durchdacht und ausgeklügelt! Ein Textblatt darf natürlich auch nicht fehlen. Mein Vinyl-Exemplar kommt in der Farbe Blue Smoke und sieht echt mal edel aus!

Und die Detailverliebtheit vom optischen Erscheinungsbild zieht sich wie ein roter Faden durch alle Fasern des Releases. Dass das Album so ausgetüftelt erscheint, kommt nicht von ungefähr. Vor der Pandemie war die Band pausenlos auf Tour, so dass durch die Lockdowns und die fehlenden Auftrittsmöglichkeiten erstmal eine willkommene Entschleunigung einsetzte, in der die Bandmitglieder verschiedene Bereiche der Kunst und des Lebens erkundete und die Mitglieder dabei die veränderte Welt eher als Chance gesehen haben und die freie Zeit genutzt wurde, um sich neue Fertigkeiten anzueignen. Back To The Roots, Back To The Nature! Es wurde viel Zeit mit Malen und Zeichnen verbracht, das Albumcover z.B. ist durch diese Fähigkeit entstanden, Bassist Danny Dempsey hat es entworfen. Zudem wurde viel mit Sounds experimentiert, dabei immer den Blick auf die glorreiche Zeit des verträumten 70’s-Sounds und chilligen Jazzklängen. So fühlt sich das Album wie eine warme Kuscheldecke an und vermittelt gleichzeitig den Ehrgeiz und die Freude einer künstlerisch aufgeweckten Band, die immer am Ausloten und auf der Suche nach Perfektion ist und neuen Einflüssen nicht abgeneigt ist. Und es ist erstaunlich, mir gefällt die Band in jeder Phase ihres bisherigen Schaffens sehr gut, auch wenn ich kein Fan von Autotune-Vocals bin, hier passt das recht gut!

Warme und verhallte Gitarren treffen auf einen pulsierenden Bass, dazu kommen smoothe Synthies und verträumter Gesang. Gastbeiträge gibt’s von Bre Morell von der Band Temple of Angels und Brendan Yates von TURNSTILE ist auch mit von der Partie. Die Vielschichtigkeit steht der Band sehr gut zu Gesicht, wie ich finde. In manchen Momenten kommen Erinnerungen an Sachen wie Caribou (Ain’t Love Heavy z.B.), Air, Daft Punk, Tame Impala oder Parcels. Ach ja, die Texte sind sehr persönlich und beinhalten eine Menge philosophischer Gedankengänge, sie runden das Gesamtwerk daher gebührend ab. Und auch hier gilt: das Album funktioniert super in seiner Gesamtheit und wächst mit jedem weiteren Durchlauf! Ein tolles Album zum Relaxen!

9/10

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L’Appel Du Vide – „Abw​ä​rtsspirale“ (It’s Eleven Records)

Aus Chemnitz kommt die eigentlich relativ neue Band mit dem französischen Namen L’Appel Du Vide, deren Mitglieder aus Bands wie Black Lagoon, Die Tunnel, MVRMANSK und Out On A Limb bekannt sein dürften. Mein ranziges Schulfranzösisch ist zwar locker über dreißig Jahre her, aber ich würde den Namen in etwa mit ‚Der Ruf der Leere‘ übersetzen. Aber gebt mal lieber nix auf meine lausige Übersetzung. Nun denn, relativ neue Band deshalb, weil 2019 gegründet und dann hat die Pandemie ein paar Jahre aufgefressen. Ach, wie schön wär es doch im Real Life, wenn wir alle ein 3-Jahres-Bonusleben obendrauf bekommen könnten, als zusätzliche Entschädigung für die Grütze wären noch zwei weitere Jahre plus mehr als gerecht! Bevor die Phantasie jetzt aber mit mir durchgeht, hier mal die Infos zum Quartett, das musikalisch irgendwo im Dark Punk/Post-Punk und Emo- und Noisepunk zu verorten ist, ein paar Surf-Punk-Einflüsse sind auch nicht von der Hand zu weisen.

Bisher gab es ein Vier-Song-Demo (2020) und ein DIY-Tape mit neun Songs (2022). Vier dieser Songs sind auf der ersten EP im 7inch-Format enthalten und das Ding ist gleichzeitig das sechste veröffentlichte Release des Chemnitzer Labels It’s Eleven Records. Die Gitarre, der geniale Bass, die blechernen, düster und befremdlich wirkenden apokalyptischen Soundscapes und der resignierte Gesang erzeugen eine gewisse Untergangsstimmung, wie man sie Mitte der Achtziger im Angesicht des nahenden Weltuntergangs hatte (Kalter Krieg, Tschernobyl, Aids, Umweltkollaps, Erst stirbt der Wald, dann stirbt der Mensch usw.). Ein paar Jahrzehnte später sind wir also wieder in einer ähnlichen Stimmung, dabei sind diese vier Songs schon vor Beginn der Pandemie und des Kriegs in der Ukraine – genauer gesagt im Jahr 2019 – entstanden. Düstere deutschsprachige Texte zwischen Entfremdung und exzessivem Scheitern setzen der Stimmung natürlich noch die Krone auf. Aber bevor irgendwer im ewigen Eis erfriert, kommt der warme Klimawandel mit unterschwelligen Melodien und catchy Riffs um die Eisscholle, die dann logischerweise direkt dahinschmilzt. Zuckerbrot und Peitsche! Eisbären im Delirium.

Kontrast ist immer präsent. Auf der einen Seite die düsteren und pessimistischen Lyrics, auf der anderen Seite die positive Energie und die eingängigen Melodien. Angststörungen, Isolation, kaputte Gesellschaft, der kalte Überwachungsstaat, das alles ist fast nicht aufzuhalten, dennoch vermitteln die melodischen Momente ein bisschen Optimismus in der zum unausweichlichen Untergang verdammten Welt. Ist das die Aufmerksamkeit, die z.B. im FDP-Programm gänzlich fehlt? Aber ganz sicher doch! Und nicht nur da. Ach ja, der Kontrast ist auch graphisch ganz gut umgesetzt, das schwarz-weiße Cover bildet eine spiralenähnlichen Fotografie ab, im aufklappbaren Cover sind dann noch die Texte auf schwarz-weißem Hintergrund abgedruckt, die Labels der 7inch sind ebenfalls schwarz-weiß. Jedenfalls macht dieser Siebenzoller ordentlich Hunger auf mehr! Wenn ihr euch eine Mischung aus der australischen Band Infinite Void, Joy Division und den aktuellen Love A vorstellen könnt, dann solltet ihr das hier definitiv nicht verpassen!

8/10

Facebook / Bandcamp / It’s Eleven Records


Bandsalat: 156/Silence, Hammok, L.S. Dunes, Pascow, Phal:Angst, Piri Reis

156​/​Silence – „Narrative“ (Sharp Tone Records) [Stream]
Spannenden Metalcore gibt’s von der Band 156/Silence aus Pittsburgh/Pennsylvania auf dem mittlerweile vierten Album zu hören. Und wenn ihr mal wieder auf der Suche nach einer wilden und eindringlichen Mischung aus Metalcore und Post-Hardcore seid, dann kann euch die Band nur ans Herz gelegt werden. Klar, es geht sehr Breakdown-lastig zu, aber das Gesamtbild macht tierisch Spaß, v.a. weil es hier zutiefst leidenschaftlich und spielfreudig zur Sache geht. Böses Gebrüll, fette Wände aus Gitarren, kraftvoll gespielten Drums und polterndem Bass, unterschwellige Melodien – Narrative hat alles, was das ausgehungerte Metalcore-Herz verehrt. Da mosht es sich wie von Geisterhand, sobald man auf Play drückt!


Hammok – „Jumping Dancing Fighting“ (Loyal Blood Records) [Stream]
Das klingt spannend, was die norwegische Band Hammok auf ihrer Debut-EP abliefert! Zusammen mit dem Intro und Outro hat das Trio sieben Songs zu bieten, die schön rotzig, fett, krachig und dick klingen. Hardcore trifft dabei auf Noise, manchmal gibt’s Ministry-mäßige Industrial-Parts und es schlägt aus jeder Note eine fiese Aggressivität entgegen. Der Sänger schreit sich derbe den Hals blutig, das Schlagzeug bekommt einiges an Dresche ab, und dennoch kann die Band auch etwas ruhiger in Richtung Post-Hardcore (bei Smile z.B.). Erinnert an manchen Stellen auch an Refused oder Every Time I Die. Ein kurzweiliger Wachrüttler mit jeder Menge Groove, solltet ihr unbedingt anchecken.


L.S. Dunes – „Past Lives“ (Fantasy) [Stream]
Kaum hatte ich das Video zu Permanent Rebellion gesehen, war ich schon fieberhaft auf alles weitere gespannt! Bei L.S. Dunes handelt es sich nämlich um eine Supergroup, hier sind Leute von My Chemical Romance, Thursday, Circa Survive, Saosin und Coheed And Cambria dabei. Und wer Anthony Greens Stimme vergöttert, dürfte hiermit äußerst glücklich sein. L.S. Dunes liefern wie erwartet ein grandioses und intensives Post-Hardcore-Album ab, das vor Spielfreude und Melancholie nur so strotzt und perfekt in Szene gesetzt wurde. Volle Punktzahl!


Pascow – „Sieben“ (Rookie Records u.a.) [Stream]
Dass Pascow eine Band ist, die seit 25 Jahren im DIY-Kosmos zuhause ist und sich über so ziemlich alles Gedanken macht, dürfte mittlerweile allen klar sein. So erscheint die Vinylversion in nur einer – hochwertigen – Version, um die Presswerke nicht unnötig zu belasten. Allein die CD-Digipack-Version des neuen und siebten Pascow-Albums sieht edel und hochwertig aus. Die CD kommt dazu noch komplett plastikfrei und hat zudem ein dickes Textheftchen mit dabei. So muss das! Und natürlich gibt es vierzehn gewohnt gute Songs zu hören, damit dürften alle Pascow-Fans absolut glücklich sein! Treibende Drums, catchy Gitarrenriffs, knödelnde Basslines und natürlich die vertraute Stimme, die wieder einige Geschichten aus Dunkeldeutschland zu erzählen hat. Bei den überwiegend weiblichen Gastbeiträgen sticht vor allem Apocalypse Vega ins Gehör, Königreiche im Winter ist halt auch ein verdammter Deutschpunk-Ohrwurm! Wie die Band es wohl schafft, nach 25 Jahren immer noch so frisch und unverbraucht zu klingen? Ein Rätsel! Jedenfalls dicke Empfehlung, das Ding zählt zum Besten, was man derzeit an deutschsprachigem Punkrock zu hören bekommt und dürfte für alte und natürlich auch für neue Pascow-Fans ein gefundenes Fressen sein!


Phal:Angst – „Whiteout“ (Noise Appeal Records) [Stream]
Ab und zu kommt es vor, dass ohne Vorwarnung Tonträger ins Haus flattern, so auch die Digipack-CD der Band Phal:Angst. Da nur ein Pressetext vom Label dabei war, recherchierte ich parallel dazu im Netz ein bisschen, um zu erfahren, aus welcher Richtung mir die Fracht zugespielt wurde. Phal:Angst kommen aus der Wiener DIY/Punk-Hardcoreszene und existieren bereits seit 16 Jahren, bei Whiteout handelt es sich um Album Nr. 5. Die Mitglieder kennt man von Bands wie Angry Kids, Cyruss, Shock Troop und den kürzlich besprochenen Desolat. Bingo! Okay, dann funktioniert die Mundpropaganda bestens, was mich natürlich sehr freut. Aufgrund des düster wirkenden Covers mit nebulösem Hintergrund hätte ich jetzt mal eher auf Doom oder Deathcore getippt, deshalb war ich ziemlich überrascht, dass es hier eher atmosphärischen Post-Rock zu  hören gibt, der zwar etwas düster und dystopisch wirkt, aber dennoch eine Menge Melancholie bzw. Romantik in sich trägt. Die Stellen, an denen es dann doch noch etwas brachial und verzerrt rüberkommt, sind jedenfalls rar gesät. Über eine Stunde und fünf Minuten Spielzeit dauern die acht Stücke, dabei wird man desöfteren an Bands wie Mogwai oder Godspeed You! Black Emperor erinnert. Cineastische Soundscapes treffen auf verhallte und flirrende Gitarren, der kehlige Gesang bringt etwas Diabolisches und das Spiel mit der Angst mit rein, zudem kommen elektronische Beats, Samples und hin und wieder die ein oder andere Harmonie zum Einsatz. Jedenfalls sehr außergewöhnlich und eigenständig alles. Schade finde ich, dass die Texte nicht abgedruckt sind. Diese Musik eignet sich jedenfalls bestens laut aufgedreht im Auto, wenn man mal wieder jemanden beim Trampen aufgegabelt hat!


Piri Reis – „Ritma“ (Moment Of Collapse Records u.a.) [Stream]
Auch noch eines dieser Wahnsinnsalben aus 2022, ihr werdet das Ding eh auf dem Schirm haben, wenn ihr auf intensiven emotive Screamo stehen solltet. Die Band aus Malaysia ist hier mal wieder in Höchstform und zwirbelt euch zehn Songs auf die Ohren, da bleibt kein Auge trocken! Schmerz, Verzweiflung, Wucht, Melodie, Intensität, Herzblut, geile Gitarrenriffs und unglaublich ergreifende Schrei-Vocals machen das Ding zu einem Highlight in Sachen Screamo und Emoviolence! Unbedingt anchecken, falls noch nicht geschehen!


Pale – „The Night, The Dawn And What Remains“ (Grand Hotel van Cleef)

Allein die Geschichte hinter diesem Release hat das Zeug dazu, einen Sturm der Gefühle auszulösen! Die Aachener Band Pale war von 1993 bis 2009 aktiv und erspielte sich gerade um die Jahrtausendwende herum einen festen Platz in den Herzen zahlreicher Emo-Fans, Alben wie Razzmatazz (The Arts At The Sands) und How To Survive Chance zählen heute für so manchen Emo/Indie-Fan inklusive mir zu den absolut zeitlosen Meilensteinen im heimischen Genre. Gerade um die Jahrtausendwende kam ich auch zwei Mal in den Genuss, die Band live zu erleben, was mir bis heute positiv in Erinnerung geblieben ist. Ein letzter Auftritt der fünf Freunde erfolgte im Jahr 2012 im Rahmen eines Open Airs in Aachen. Im November 2019 beginnt dann die tragische Geschichte hinter diesem allerletzten Album der Band Pale. Gitarrist und Sänger Christian Dang-anh und Schlagzeuger Stephan Kochs erhalten am selben Tag ärztliche Diagnosen, die sehr ernst sind. Das Schicksal und der Schock über die eigene Vergänglichkeit sorgte anschließend jedoch dafür, dass die stets befreundeten und zahlreichen Mitglieder der Band wieder verstärkt im Kontakt standen und genau das machen wollten, was jahrelang ein Rettungsanker in ihrem Leben war: Musik.

Und so nimmt die Entstehungsgeschichte des Albums ihren Lauf. Zu Beginn der Bandproben schied aber Schlagzeuger Stephan Kochs aus gesundheitlichen Gründen bereits aus. Der Prozess der Erschaffung neuer Musik gab Christian Hoffnung und etwas Kraft, die intensiven Behandlungen zu überstehen, jedoch erlebt er die finale Fertigstellung nicht mehr. Im Mai 2021 erliegt er seinem Krebsleiden und die Band stellt das Album ohne ihn fertig. Und das Resultat, das anderthalb Jahre nach Christians Tod erschienen ist, löst genau den eingangs beschriebenen Sturm der Gefühle aus, auch wenn man die Geschichte dahinter nicht kennt. Christian hat hier ein letztes Mal seine Spuren hinterlassen, die Band hat quasi ein letztes Denkmal für die Musik, die Freundschaft, das Leben, die Leidenschaft und die Dankbarkeit für die Lebenszeit, die zusammen verbracht werden konnte, gesetzt.

Nach einem andächtigen Piano-Intro lassen die Gitarrenhooks des instrumentalen Openers Wherever You Will Go bereits Freude aufkommen, die Handschrift von Pale ist unverkennbar! Beim darauffolgenden Tonight (We Can Be Everything) blitzt dann dieses Déjà-Vu-Gefühl auf, hier ist es natürlich der Gesang von Christian, der ins Ohr gehende Refrain und die geliebten Mitsingpassagen, die dieser Song sicher live ausgelöst hätte. Wiederholt taucht während des Albumverlaufs ein Saxophon auf, was sich wunderbar in die Musik von Pale einfügt, beim letzten Song Someday You Will Know wurde sogar Steve Norman von Spandau Ballet gewonnen, ein Saxophon-Solo beizusteuern. Da stellen sich die Nackenhärchen ganz automatisch! Und klar, die melancholischen Momente waren bei der Musik von Pale immer präsent, aber auch ein lebensbejahendes Glücksgefühl lässt sich an vielen Stellen heraushören. Songs wie Bigger Than Life oder Someday You Will Know werden dennoch sicher die eine oder andere Träne kullern lassen. So schlimm der ganze Schmerz und Verlust letztlich ist, freut man sich dennoch darüber, dass mit dem Album die Erinnerung festgehalten wurde und damit ein Denkmal für die Freundschaft und die gemeinsame Lebenszeit gesetzt wurde! Im März 2023 gab es noch ein allerletztes Konzert der Band Pale zu sehen, so dass in Zukunft nur noch an der Erinnerung festgehalten werden kann. Und mit diesem Album gelingt das ebenso wie mit den unvergesslichen und bereits erwähnten Meilensteinen.

8/10

Facebook / Spotify / Grand Hotel van Cleef


Villages – „Excessive Demand“ (It’s Eleven Records/Pike Records)

Im Vergleich mit dem „durchsichtigen“ Debutalbum Ill Ages der Band Villages kommt das zweite Album zwar ohne pfiffiges Wortspiel aber um einiges farbenfroher um die Ecke, was das Artwork anbelangt. Das Albumcover besteht aus einer Fotocollage, die darauf zu sehenden Bilder vermitteln aufgrund ihrer verwaschenen Farbgebung ein gewisses nostalgisches Gefühl, auch die Fotos der Innenhülle und die bedruckten Labels sind ähnlich gestaltet, das gelbe Vinyl steht in einem schönen Kontrast dazu. Das Artwork wurde von Fabian Bremer entworfen, ihn kennt man in musikalischer Hinsicht von den Bands AUA und Radare. Die 12inch ist in Zusammenarbeit der Labels It’s Eleven Records und Pike Records erschienen.

Die atmosphärische Musik des Trios aus Dresden, Halle und Leipzig ist nach meinem Empfinden noch weiter in Richtung Elektronik und Synth-Pop vorgedrungen, dennoch hört man das kantige Handwerk deutlich heraus, gerade die Drums geben den Kompositionen ordentlich Biss. Vielschichtige Post-Punk, Post-Rock und Indie-Sounds kommen ebenfalls nicht zu kurz, so dass sich bei jedem weiteren Durchlauf immer wieder feine neue Untertöne und die Liebe der Band zum Detail entdecken lassen. Die Drums sorgen zusammen mit dem experimentierfreudigen und warm klingenden Bass für knackigen Groove, die shoegazigen Gitarren bringen im Kontrast dazu eine gewisse Mystik und düstere Kälte mit sich. Zusammen mit dem heuligen Gesang, der auch öfters mal mehrstimmig ist, zeichnen sich aber dennoch aus den verschiedenen Bausteinen recht eingängige Stücke ab, insgesamt gibt es acht Songs zu hören. Wer mit Bands wie beispielsweise !!!, LCD Soundsystem, The Rapture oder Gang Of Four etwas anfangen kann und die Kälte der 80er liebt, sollte hier unbedingt mal ein Ohr riskieren. Denn mit jedem weiteren Durchlauf merkt man, dass Excessive Demand ein richtiger fieser Grower ist! Dazu gefällt auch die glasklare Produktion und das Mastering, die Tonmeisterei mal wieder!

Und auch textlich geht es sehr durchdacht zur Sache. Die Texte sind allesamt auf der Innenhülle abgedruckt. Die Jungs haben sich viele Gedanken gemacht, neben politischen, gesellschaftskritischen und persönlichen Themen gibt es reichlich Hirnfutter, empfehlenswert dürfte hier als Paradebeispiel der Text zum Song Neal herhalten! Alles in Allem ist Excessive Demand ein äußerst spannendes Release, das man sich nicht durch die Lappen gehen lassen sollte!

8/10

Facebook / Bandcamp / It’s Eleven Records / Pike Records


fjørt – “ [nıçts] “ (Grand Hotel van Cleef)

Da war ganz schön Gewusel in der fjørt-Fankurve, als die Band im April letzten Jahres ankündigte, an zwei Tagen im August in Köln und in Hamburg an je einem Tag in vier verschiedenen Clubs ihre komplette Discographie live zu präsentieren. Immerhin war es nach ein paar Festivalshows im Jahr 2019 ziemlich ruhig um die Band, auch während der Covid19-Pandemie gab es keinerlei Lebenszeichen auf den Social Media-Plattformen. Und dann, plötzlich – quasi aus dem Nichts – diese ohne viel begleitende Worte erfolgte Ankündigung der Diskographie-Konzerte: da kann man als Fan schon mal nervös werden und befürchten, dass die Pandemie der Band vielleicht ein Ende gesetzt hat, zumal seit dem Couleur-Album seit 2017 auch keine Veröffentlichung des Trios mehr zu verbuchen war. Ohne neues Material im Rücken live zu spielen, ist ja eigentlich auch eher die Ausnahme. Dennoch – oder auch gerade deshalb – waren die Konzerte innerhalb kürzester Zeit restlos ausverkauft. Ein gutes Zeichen für eine treue Fangemeinde! Alle, die sich einen Platz ergattern konnten, waren nach diesem Show-Erlebnis sicher mehrere Wochen im Glückstaumel, zumal die Band als „Zugabe“ mit den Songs lod, bonheur und fernost drei neue Kompositionen zum Besten gab und damit schon mal einen Vorgeschmack auf das für den 11.November angekündigte neue Album gab (übrigens gibt es von dieser Szene ein Live-Video zu sehen).

[nıçts] ist in vier verschiedenen Versionen erschienen, u.a. gibt es eine Gatefold-LP mit farbigem Vinyl, eine 7inch-Vinylsingle-Abo-Box, eine Standard LP-Version und natürlich eine CD. Hoch erfreut bin ich über mein erhaltenes Bemusterungsexemplar, in meinem Fall die Standard LP. Einfach nur Liebe! Das minimalistische aber dennoch prägnante Albumartwork ist jedenfalls ein echter Hingucker, auch die verschiedenen Fotos der symbolhaften Draht/Lötzinn/Kabel-Kunstwerke im edlen Textheftchen wären Motive, die man sich ohne weiteres als Kunstdruck-Reihe in die Wohnung hängen könnte. Gestaltet hat übrigens wie auch bereits auf früheren fjørt-Veröffentlichungen Freya Paul. Sehr schön in Szene gesetzt und gewaltiges Kopfkino in Sachen Merchandise-Ideen! Wie wär’s z.B. mit veganer Lakritze?

fjørt ist jedenfalls eine Band, die mit Herzblut, Leidenschaft, unbändiger Spielfreude und mit sehr viel Verstand und Tiefgründigkeit bei der Sache ist. Das spürt man spätestens beim Besuch einer Show, beim sympathischen Smalltalk am Merchstand, beim Lesen eines x-beliebigen Interviews und natürlich beim konzentrierten Lauschen der bisherigen Veröffentlichungen. Und auch das neue Stück Musik zeigt wieder, dass hier mit Haut und Haaren gekämpft und gelitten wird! Die ersten Tonträger wurden innerhalb von fünf Jahren veröffentlicht, in dieser Zeit wuchs die Band vom DIY-Geheimtipp zum Post-Hardcore-Liebling. Auch wenn sich die Band von Release zu Release etwas weiterentwickelt hat, hätte ich diesen Rutsch in die Perfektion auf [nıçts] so nicht erwartet! Da muss man erst mal wieder den Mund zubekommen, nachdem die erste Hörrunde absolviert ist und man den Drang hat, direkt zig weitere folgen zu lassen! Einfach nur wow!

Vom bombastischen Sound (Beray Habip) angefangen, bis hin zu den stimmigen und brachialen Songarrangements, den diesmal ohne kryptische Bildersprache deutlicher formulierten Lyrics und den im Vergleich zu den bisherigen Veröffentlichungen softeren Parts mit gesungenen Vocals ist das Album einfach nur grandios geworden, v.a. die häufigen Clean-Gesangsparts werten den Sound von fjørt gewaltig auf. Auch das im Albumtitel genannte zentrale Thema zieht sich wie ein roter Faden durch das Album, dazu passend die symbolhaften Motive im Artwork. Willkommen in der Achterbahn der Emotionen! Das dachte ich mir bei den ersten Hörrunden, denn hier gibt es ein breites Spektrum dazu: da sind zahlreiche Gänsehautparts vorhanden, hier hat man einen riesigen Kloß im Hals, dort bekommt man einen gewaltigen Tritt in die Magengrube, hier freut man sich über die textliche Hommage an die Band Kill.Kim.Novak. und dort gibt es einen kleinen Lichtschimmer mit fast schon poppigen Klängen bei fünfegrade! So viel Druck, so viel Wucht, so viel Hoffnungslosigkeit! Die direkte Benennung unserer gesellschaftlichen Defizite steigert das unangenehme und unbequeme Gefühl sehr viel mehr als die bisher eher kryptischen Anspielungen, die viel Freiraum für Interpretationen zuließen. Bestes Beispiel sind hier die Songs kolt und lakk, die diese innere Leere und dieses machtlose Gefühl spürbar machen. Gerade lakk hat so viel Hoffnungslosigkeit in sich, die zarte Kinderstimme im Kontrast dazu, einfach unbeschreiblich! Ganz großes Kino! Ich würde sagen, dass wir hier einen Meilenstein in Sachen deutschsprachigem Post-Hardcore haben, ein Gesamtkunstwerk der Extraklasse!

10/10

Facebook / Spotify / Grand Hotel van Cleef


Reveries – „Middle Hideout“ (Hithome)

Gleich vorneweg, um die Verwechslungsgefahr aus dem Weg zu räumen: bei dieser Band Reveries handelt es sich nicht um die Emo-Hardcore-Band aus Boston, sondern um ein Quintett aus Köln, das musikalisch irgendwo im Indierock zu verorten ist. Die Band gründete sich im Jahr 2017 aus einem Singer-Songwriter-Projekt des Leadsängers Max Altmeyer heraus, bisher wurden eine Handvoll Singles und EPs veröffentlicht. Middle Hideout stellt also nun das Debutalbum der Band dar. Und so wie es aussieht, ist die Band voller DIY-Tatendrang, denn auf dem Debutalbum wurde vieles selbstgemacht. So wurden die elf Songs selbst aufgenommen und produziert. Die 12inch sieht mit dem geheimnisvollen Coverartwork schon mal toll aus, hier bekommt man später noch genügend Zeit zu rätseln, was die verschwommene Aufnahme darstellen könnte. Ein bisschen schade ist, dass die Innenhülle nur mit den Infos zum Release bedruckt ist und die Texte leider fehlen. Dafür kann das durchsichtige Vinyl punkten.

Und dann ist da ja auch noch die fabelhafte Musik der Kölner. Der Funke sprang bei mir sofort bei den ersten Klängen über und der äußerst warme Sound hat nach etlichen Hörrunden sogar noch an Eindruck gewonnen. Reveries sind im verträumten Indie-Sound der Nuller zuhause, ganz viel Melancholie ist hier mit an Bord, natürlich kommen auch Pop-Elemente und Emo-Rock zum Einsatz. Die Jungs haben sicher Platten von Bands wie Stars, Death Cab For Cutie, Velveteen, Broken Social Scene oder Eeels im Schrank stehen, denn in diese Richtung geht es musikalisch. Gerade der Opener erinnert mit seinem male/female Gesang stark an Stars. Die A-Seite huscht jedenfalls so schnell vorbei, dass man ganz erschrocken aus der von Songs wie beispielsweise Calm Fields, Feel Back oder Same Talks inspirierten Träumerei erwacht, sobald die Nadel in der Auslaufrille verweilt. Auch auf der B-Seite wird es zu keiner Zeit langweilig. Das Songwriting ist schön ausgetüftelt, hier und da kommen zusätzliche Instrumente wie Saxophon, Synthies, elektronische Spielereien oder Orgeln zum Einsatz. Highlights der B-Seite sind für mich die Songs Moments, Routine und Balance.

Und auch textlich hat die Band tiefgründiges zu erzählen. Der Albumtitel ist als Versteck zu verstehen, in das man sich verkriecht, wenn man sich voller Selbstzweifel unsicher über den weiteren persönlichen Werdegang im Leben ist. Weitere Inhalte sind mentale Gesundheit, die Fallen in der täglichen Routine oder Versagensängste. Also durchaus Food For Thought!
Eigentlich sollte das Album als Ganzes am Stück über gute Kopfhörer gehört werden, dann gelingt das Eintauchen in die Welt von Reveries umso besser! Natürlich funktioniert die Platte auch als Begleitung für ein ausgiebiges Sonntagsfrühstück. Ich hab jedenfalls mit Middle Hideout die perfekte Platte gefunden, um eine halbe Stunde am Stück runterzukommen und zu entspannen!

8/10

Facebook / Spotify / Hithome


Liotta Seoul – „Worse“ (Krod Records)

Es macht echt Laune, wenn man nach ’nem miesen Tag heim kommt und ein Plattenpaket vor der Tür auf einen wartet. Klar, damit war zu rechnen, da ich ein paar Tage zuvor völlig geschockt ’ne Anfragemail von vor etlichen Monaten checkte und vom Inhalt sofort Blut geleckt hatte. Konnte kaum glauben, dass aufgrund meiner verzögerten Antwort wirklich noch physische Bemusterungsexemplare vorhanden waren und ich direkt sogar die 12inch-Version dieses mittlerweile dritten Albums der Band Liotta Seoul aus Koblenz zugeschickt bekam. Wahnsinn! Und dann auch noch so ein optisch schöner Hingucker! Luftsprung! Das Albumartwork kommt im Comic/Graphic Novel-Stil daher, ein schön gestaltetes Textblatt ist ebenso mit von der Partie und das rosafarbene Vinyl mit Marmorstruktur erhellt sofort meine eingangs beschriebene düstere Laune. Und natürlich zaubert mir der Sound der Koblenzer ab dem ersten Ton ein unvorteilhaftes und entrücktes Grinsen ins Gesicht! Yeah!

Ja, so muss das sein! Zuckersweete Melodien treffen auf catchy Parts und dabei darf die Melancholie und auch der Humor nicht zu kurz kommen! Hier dürften sich alle zuhause fühlen, die in den Neunzigern mit abgerissenen Klamotten und wilden Zottelhaaren unterwegs waren und ein wenig später die schweren bordeauxfarbenen Stahlkappen-Docs und den zu mainstream gewordenen Grunge gegen abgelatschte Sneakers, myspace und hymnenhaften Emo-Rock auswechselten. So in etwa klingen Liotta Seoul dann auch, sie kombinieren Grunge und Emo-Rock, addieren noch ’ne gewisse Slacker-Attitude und schielen darüber hinaus auch immer mal wieder noch in Richtung Pop, Indie-Rock und sogar Nu-Metal.

Während der musikalischen Reise durch das acht Songs starke Album kommen Bands wie Nirvana, Thursday, 30 Seconds To Mars, Weezer, frühe Foo Fighters, Smashing Pumpkins in ihrer Hochphase oder MightyMacFluff (harr harr) in den Sinn. Abwechslungsreich und absolut ausgetüftelt hört sich das im Gesamten an, die Songs funktionieren zusammen sehr gut! Und dabei handelt es sich bei dem Album um insgesamt acht Singles, die die Band in den letzten sechs Monaten vor dem Release des Albums veröffentlicht hat. Und bereits beim zweiten Durchlauf merkt man, dass diese acht Songs richtige Ohrwürmer sind. Darüber hinaus klingt der Sound fett und klar, da kann man auch mal über einen Vocoder-Effekt hinwegsehen. Für mich persönlich – wie eingangs erwähnt – ist Worse eine absolute gute-Laune-Platte!

9/10

Facebook / Bandcamp / KROD Records


ProvinzPostille #9 + Tape – Herbst 2022

Schon geil, da kommt pünktlich zu Weihnachten ein liebevoll geschnürtes Paket aus Baden-Baden ins Haus geflattert. Neben der neulich besprochenen pADDELNoHNEkANU-7inch ist auch die neue ProvinzPostille mitsamt Tape-Compilation am Start! Geil, oder? Das im liebevollen DIY-Stil gefertigte DIN A5-Zine erinnert mich an die gute alte Zeit, als man die Dinger entweder jemandem aus dem Bauchladen auf ’nem Konzert für ein paar Mark abkaufte oder gar ein bisschen abgefahrener per Brief mit beigelegten Briefmarken bestellte. Ja, das war lange Zeit vor dem Internet. Und irgendwie machen mich solche Formate auch heute noch glücklich, auch wenn man sich durch wenige Klicks im World Wide Web den absoluten Durchblick schaffen kann. Drauf geschissen, denn manche Inhalte lesen sich einfach analog besser. So auch hier, dazu kann man auch noch puzzeln, wenn mal die eine Seite zu Ende ist und die nächste vom Sinn her einfach nicht dazu passen will. Yeah, DIY forever!

Der Umschlag ist diesmal auch wieder besiebdruckt und fühlt sich schön kratzig an, die Seiten sind wie immer kopiert und alles ist zusammengetackert. Zwischendrin sind ein paar Hochglanz-Farbdruckseiten mit Live-Bildern zu sehen. Nettes Gimmick, aber eigentlich nicht unbedingt nötig. Dennoch sehr sympathisch, da die ProvinzPostille an vielen Stellen dieses Ego-Zine-Feeling vermittelt und halt einfach gemacht wird, was selbst gefällt. Inhaltlich gibt es natürlich wieder viele persönlichen Gedanken zu lesen, Tagebuchstyle yeah! Bei den Interviews stürzte ich mich zuerst auf Black Square, da deren Album Blumen am Abgrund ganz pfiffig war, außerdem war es auch gleich das erste Interview im Zine. Mein Highlight war aber dann das Interview mit Krause Glucke Weltverschwörung, die eigentlich ganz in der Nähe von mir (Konstanz) beheimatet sind und ich die Band bisher nur vom Namen her kannte (haben mal mit den Ravensburgern alter egon gezockt). War zwar neugierig, wie die Band wohl klingen mag, hab dann aber erst später nach der Lektüre das Quartett auf Tape-Compilation für noch interessanter befunden. Und ja, hüstel…dank Bandcamp hab ich jetzt alle dort verfügbaren Veröffentlichungen auf der Festplatte und falls ich mich jemals wieder auf Konzerte traue, ist es nicht unwahrscheinlich, dass ich da mal vorbei schaue. Jedenfalls macht das Lesen umso mehr Laune, wenn man regionalen Bezug zur Band hat. War zwar schon seit Ewigkeiten nicht mehr in Konstanz (die Fähre über den Bodensee ist nicht gerade billig!), aber der legendäre alte Horst Klub in Kreuzlingen ist ebenso präsent wie das Contrast in Konstanz oder die alte und leider nicht mehr existente Remise in Wil in der Schweiz. Ach ja, das Slime-Interview klingt ganz sympathisch, hab die neuen Slime aber bisher immer noch nicht angecheckt. Aber mach ich schon noch. Ach ja, weitere interessante Interviews gibts mit der Band Zero Zeros und Syndrome 81, dazu sind noch diverse Gastbeiträge dabei.

Und dann ist da ja noch die 36 Songs starke Compilation, bei der ich ohne zu gucken die Band Syndrome 81 herausgehört habe, ohne deren Sound zu kennen, also allein aufgrund des Interviews. Jedenfalls gibt das Tape einen guten Überblick über die Subkultur-Szene, freue mich natürlich über alte Kumpels wie Hell & Back oder Zeugs wie El Mariachi, aber die eigentlichen Helden sind die mir absolut unbekannten Rumpel-Bands oder gar HipHop-Sounds wie z.B. Lena Stoehrfaktor. Sehr abwechslungsreich! Bestellt euch das Ding, da steckt viel Arbeit und DIY-Spirit drin!

ProvinzPostille / Bandcamp


Brexit Colada – „Das Erbe“ (Tanz auf Ruinen Records)

Ziemlich verblüfft war ich, als die Besprechungsanfrage zu diesem Release hier bei mir eintraf und ich ein erstes Öhrchen riskierte. Wow! Absolut genrefremd zwar, aber drauf geschissen: die mit der Anfrage gesendeten Videos berührten mich total, v.a. der Song Freiheit hat es mir direkt angetan! Und kaum war die Interessenbekundung an einer Besprechung raus, kam auch schon wenige Tage später die Vinylversion ins Haus geflattert! Die Neugier über die Band trieb mich voran: eine Recherche später merke ich schon, dass ich mich in meiner Wortwahl ein wenig zügeln muss: das deutsche female/male-Duo Brexit Colada kommt nach eigener Angabe aus deutschem Adel, da sind der Intellekt und die guten Manieren auch nicht weit. Also, Gossensprache adieu! Au Backe, holy shit! Ich glaub das jetzt mal, da die lyrischen Ergüsse und die mit zarten Fingern auf dem Klavier – hüstel Konzertflügel – gespielten Noten deutliche Anzeichen dafür sind. Oder soll ich mal Böhmermann für ’ne ausführliche Recherche anheuern? Danger Dan ist mit ähnlicher Musik und Message durch das Böhmermannsche TV-Modell auch irgendwie durch die Decke gegangen.

Brexit Colada, das sind wohl die beiden unter Pseudonym agierenden Brexit von Buttlar und Farina Colada. Füttert ruhig die Internetsuchmaschine, dann findet ihr schnell heraus, dass hier die ebenfalls auf der Plattenhülle abgedruckten Personen Lionel Tomm und Farina Jäger-Stabenow dahinter stecken. Beide sind schon seit ein paar Jährchen in Hamburg in der Kunstszene aktiv, die Straßenkunst, das Theater und andere Performances haben dazu geführt, dass die beiden nun mit Das Erbe ein Musiktheaterstück mit anarchistischen Zügen und auch ein dementsprechendes Album an den Start gebracht haben. Das LP-Cover ist so unheimlich weich, dass sich auf dem edlen Papier jeglicher Fingerabdruck abzeichnet. Schlechte Voraussetzungen für anarchistische Aktionen. Aber mit einem weichen Brillentuch, das wir anarchistischen Intellektuellen ja stets mit uns führen, sind die fettigen Wurstfingerabdrücke im Nu rauspoliert!

Das Foto vom Albumcover ist sicher im Rahmen des Videodrehs zum Song Freiheit entstanden. Auf dem Backcover ist der Konzertflügel abgebildet. Solche edlen Flügel stehen ja sonst immer in millionenschweren Villen, daher ist der Kontrast mit der abgeranzten Fabrikhalle ganz pfiffig. Helft den Reichen, damit sie sich wieder ein ordentliches Dach für ihren Konzertflügel auf eure Kosten leisten können! Die fetten Jahre sind nämlich vorbei! Ziemlich sympathisch find ich die Innenhülle, auf der die in deutscher Sprache verfassten Texte abgedruckt sind und in schöner DIY-Manier handschriftlich die Nummer eingetragen wurde. Aha, 300 Stück wurden produziert, und alle Innenhüllen lassen sich ebenfalls mit dem Brillentuch polieren! Die Labels der A- und B-Seite sind auch handschriftlich gekennzeichnet, yeah! Und dann, sobald die Nadel auf die Rille gesetzt wird, dann kann die Reise los gehen, gerade auf Vinyl wirkt das Album enorm! Kopfhörer sind nicht verkehrt, um in die Welt von Brexit Colada einzutauchen! Die zwei machen genau das, was sie wollen und geben einen Scheiß auf momentan angesagte Musik-Trends. Genau das gefällt mir unheimlich! Der größte Anteil in der Musik dürfte unter Klassik fallen, es gibt aber auch Elemente aus Punk, Hip-Hop, Pop, Elektro, Techno oder Folk zu hören, vorwiegend auf der B-Seite der 12inch. Die Songs sind aufgrund der verwendeten Instrumente zwar ziemlich ruhig gehalten, dennoch ist die Wut und die Leidenschaft der beiden zu spüren! Und gerade diese Leidenschaft und dieser irre Bezug zur eigenen Kunst machen den Reiz des Releases aus. Live sicherlich toll anzusehen! Und dann gibt’s neben dem Konzertflügel auch elektronische Spielereien zu hören, der female/male-Gesang ist auch harmonisch, manchmal aber auch etwas schräg bzw. eben halt theatralisch. Die popkulturellen Anspielungen in den kritischen und anprangernden Texten sind jedenfalls spitze (Grauzone, Rhianna) und auch sonst nimmt das Duo kein Blatt vor den Mund und bringt alles auf den Tisch, was in unserer Gesellschaft und Welt schief läuft. Wenn ihr also Zeug wie Hauke Henkel oder Danger Dan mögt, dann wäre Brexit Colada eine dicke Empfehlung!

8/10

Instagram / Bandcamp / Tanz auf Ruinen Records


Bandsalat: Ernte 77, Franz Fuexe, Freedumb, Hot Mass, Pembe, Team Tyson

Ernte 77 – „Das rote Album“ (Rookie Records) [Stream]
Deutschpunk ist ja jetzt mittlerweile nicht mehr so mein Thema, aber das vierte Album der Kölner Band Ernte 77 macht mir ganz schön viel Freude. Das liegt am melodischen Vibe, der sich durch die vierzehn Songs zieht und sehr an die 90’s-Cali-Punk-Zeit erinnert, dazu wissen die humorvollen und auch sozialkritischen Lyrics zu gefallen. Gerade der Humor scheint ein ständiger Begleiter des Trios zu sein, wie man bereits am Albumtitel und Artwork sehen kann, vorausgesetzt man hat keine rot-grün-Schwäche! Aber Vorsicht, das Label Fun-Punk ist hier unangebracht, dazu sind die Texte viel zu intelligent. Übrigens kann man diese im liebevoll gestalteten DIY-Textheftchen nachlesen, da stöbert es sich doch gerne! Dazu schleichen sich immer wieder nette Zitate aus der popkulturellen Geschichte zwischen die Zeilen. Musikalisch ist die Abwechslung zu begrüßen, denn auch wenn die Hooklines so catchy in die Hörgänge kriechen, freut man sich an den Referenzen zum Indie-Rock, Garage-Punk, NDW, Elektro und Alternative. Ich find’s irgendwie geil!


Franz Fuexe – „Selftitled“ (Honigdachs) [Stream]
Ach Du Scheiße, wir müssen reden! Und zwar über die Band Franz Fuexe, die mir aufgrund einer Besprechungsanfrage direkt ins Auge/Ohr gestochen ist! Wahnsinn, warum gibt’s Algorhythmen, wenn mir das hier nicht schon zuvor automatisch vorgeschlagen wurde? Franz Fuexe kommen irgendwie aus Österreich, genauer gesagt aus Wien. Wer jetzt Cafe-Haus-Chill-Out erwartet und völlig ausgehungert von ’ner Melange träumt, kann direkt kacken gehen (groß und richtig heftig). Und bitte richtig derb und ohne danach das Fenster zu öffnen! Denn die Band orientiert sich an Hardcoreknüppelsounds aus den frühen Achtzigern bis hin in die Neunziger, scheut aber auch den Kontakt zur modernen Zeit und ihren vielfältigen Möglichkeiten nicht. Habt ihr’s in der Nase, diesen Geruch von altem und verschimmeltem Proberaumteppich? Ich schon! Und dann ist da noch Dank der mundartlichen Lyrics dieser spezielle Özi-Humor, den ich so sehr liebe! Kottan ermittelt, der Aufschneider, Der Knochenmann, Ein Haus am Wörthersee, (fast) alles so gut [finde den Fehler]! Aber wieder zur Mucke! Kennt ihr noch Discharge, die Dead Kennedys oder Anthrax? Stellt euch die mal mit österreichischen Mundarttexten vor, Wiener Schmäh inklusive! Geil, oder? Aber hallo! Müsst ihr euch echt mal reinwürgen!


Freedumb – „Social Hangover“ (Fucking North Pole Records) [Stream]
Die norwegische Hardcore-Punk-Band Freedumb treibt auch schon seit 2003 ihr Unwesen, nach diversen Line-Up-Wechseln und dem Tod des Drummers im Aufnahmeprozess zum Album Post-Modern Dark Age war erstmal eine Auszeit angesagt. Noch vor Ausbruch der Covid-Pandemie suchte die Band einen neuen Drummer und nahm den Aufnahmeprozess wieder auf, so dass das Album Post-Modern Dark Age erscheinen konnte. Mit Social Hangover ist jetzt das vierte Album erschienen. Zu hören sind zehn oldschoolig angehauchte Hardcore-Punk-Granaten, die neben melodiösem Punkrock auch eine emotionale Kante aufweisen.


Hot Mass – „Happy, Smiling And Living The Dream“ (This Charming Man u.a.) [Stream]
Der Band aus Swansea/UK ist mit ihrem zweiten Album ein richtig fluffiges Ding gelungen. Schön gitarrenlastig ist der erste Eindruck, die Mischung aus Emo, Grunge, Indie und Punk erinnert mich das ein und andere Mal an die großartigen Brand New Unit, neuere Bands wie The Copyrights oder Iron Chick kommen auch in den Sinn. Ich mag die melodische Art und die stimmigen Songarrangements, die melancholischen Untertöne sind ebenfalls klasse. Ein richtig gutes Album, zwölf Songs für die Ewigkeit!


Pembe – „Hepimizin Evi“ (Dingleberry Records u.a.) [Stream]
In der DIY-Hardcore/Screamo-Szene der Türkei gibt es auch immer wieder cooles Zeug zu entdecken, aktuell hat die bereits in einer älteren Bandsalat-Runde vorgestellte Istanbuler Band Pembe ihr zweites Album am Start. Und bereits an der Mitwirkung der zahlreichen Labels merkt man, dass das hier eine Herzensangelegenheit ist. Die Labels Dingleberry Records, Kolo Records, Nasty Cut Records, Mevzu Records, Entes Anomicos, New Knee Records, Khya Records, Salto Mortale Music, Seitan’s Hell Bike Punks, Fresh Outbreak Records, Abraxas Distro, Friendly Otter DIY, Nothing to Harvest Records und Callous Records sind am Release beteiligt. Musikalisch präsentiert das Quartett ein Gefühlschaos aus 90’s Emocore und impulsivem Screamo, die Lyrics werden in türkischer Sprache und äußerst leidend präsentiert. Cool auch, dass neben den gängigen Instrumenten auch vereinzelt Streicher zu hören sind. Zum Reinfinden würd ich mal den Song Gözlerim Kısık vorschlagen!


Team Tyson – „Soll das jetzt alles sein?“ (Rookie Records) [Stream]
Auf dem vierten Album der Berliner Band Team Tyson gibt es schön schrammeligen und nach vorne gehenden Deutschpunk zu hören, der auf der Gitarrenseite von älterem US-Hardcore á la Circle Jerks oder Off! inspiriert ist. Das tritt dann ordentlich Arsch, so dass die Jungs ihre dreizehn Songs in zwanzig Minuten runterrasseln und dabei auch noch Zeit für die ein oder andere melodische Hook bleibt. Läuft mir gut rein, zumal die Spielfreude nicht zu überhören ist und auch die sozialkritischen Texte alles andere als platt sind. Und wenn man dann denkt, schneller kann’s nicht werden, zaubern die Jungs ganz zum Schluss noch ’nen kurzen D-Beat-Hammer aus dem Ärmel! Sorgt live sicher für schwitzige Pogo-Attacken!


pADDELNoHNEkANU- „Wir streiten aus ästhetischen Gründen nie“ (Krachige Platten u.a.)

Wenn es um DIY und deutschsprachigen Punk mit Köpfchen geht, dann liegt die Baden Badener Band pADDELNoHNEkANU ganz weit vorn! Pünktlich zum 20. Bandjahr-Jubiläum zelebriert das Trio den konstant ausbleibenden Erfolg ihres Schaffens mit einem neuen Siebenzoller, auf dem insgesamt drei Songs in einer Spielzeit von knappen 12 Minuten zu hören sind.

Aber zuerst gilt es, dem haptischen Genuss Tribut zu zollen! In schönster DIY-Ästhetik ist das Scheibchen in ein von Hand zusammengefaltetes Cover eingepackt, hier merkt man die Handschrift von Sänger und Gitarrist Felix, der ja nebenher auch noch als Fanzinemacher (Provinzpostille) tätig ist. Mein Exemplar hat ein rotes Cover, es gibt aber auch noch gelbe und grüne Exemplare. Wenn man das Cover aufgefaltet hat, kommt natürlich erstmal eine schöne Packpapier-farbene Innenhülle zum Vorschein, zudem stechen sofort die Texte und die schönen Banksy-artigen Zeichnungen (Fallschirm-Ratte und Fallschirm-Minor Threat-Schaf) ins Auge. Das mit dem Banksy hab ich übrigens ganz allein erkannt, erst im Nachhinein wurde dieses Erkenntnis mit der Lektüre der neuen Provinzpostille in etwa bestätigt. Sehr geil! Zudem erfährt man, dass die Songs zwischen Frühjar 2021 und 2022 entstanden sind, also inmitten der Covid19-Pandemie in einer Phase, in welcher etliche Mutationen umherkreisten und schwurbelige Montags-Spaziergänger*innen wie Zombies ohne Hirn und fragwürdige Parolen singend durch die Fußgängerzonen Deutschlands wankten. Sicherlich erhielt die ein oder andere geschriebene Zeile Inspiration aus diesem gesellschaftlichen Disaster. Aber zu den Texten später mehr! Außerdem ist zu lesen, dass das Release in Zusammenarbeit der Labels Krachige Platten, 30 Kilo Fieber Records, Elfenart Records und Entez Anomicos erschienen ist. Die Labels der 7inch sind ebenfalls mit Zeichnungen versehen. Und das Vinyl-Scheibchen selbst kommt in dreckiger Goldoptik und sieht so natürlich äußerst shabby chic aus! Ach ja, einen Downloadcode für vinylschonende oder drehfaule Menschen ist selbstverständlich auch mit dabei!


Die A-Seite beginnt mit schön schrammeliger Gitarre und knödeligem Bass, wobei man sich ziemlich schnell in die darauffolgenden quirrligen Gitarrenverrenkungen verliebt, der deutschsprachige Gesang weiß auch zu gefallen, zumal die Textinhalte intelligent und poetisch formuliert sind. Und immer wieder schwingt in der Mischung aus Deutschpunk und Emopunk ein ordentlicher Schuss Melancholie mit. Friss oder stirb fressend ist zudem noch ein sagenhaft guter Songtitel. Danach wird es ein bisschen düster in Dunkeldeutschland, bereits der Songtitel schwarz zu grau spoilert die Stimmung des Songs, den Zustand der Gesellschaft betrauernd. Nun denn, dann ist die A-Seite auch schon vorbei. Der 7inch-Titel gebende Song füllt dann die komplette B-Seite und mäandert sich mit weirden Gitarren in die Hörgänge, das kalte 80er-Punk-Feeling wird hauptsächlich durch Post-Punk-artige Elemente und dissonante Gitarren getragen. Was mir auch ganz gut gefällt, ist die krachige und rauhe Aufnahme, hier wähnt man sich bei ausreichender Lautstärke und geschlossenen Augen fast im Proberaum der Jungs, für modrigen Kellergeruch braucht es halt dann eine rege Phantasie. An dieser Aufnahme erkennt man jedenfalls die Spielfreude und das Gefühl, das die Band in ihre Songs legt. Alles in allem ist das hier ein 1A-DIY-Release, das sich sowohl Emopunks als auch Fans von klischeefreiem Deutschpunk auf den Plattenteller packen sollten!

8/10

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Schwach – „Kälter“ (Upstartz Records u.a.)

Die Berliner Hardcoreband Schwach ist mir bis zur Besprechungsanfrage zu ihrem neuen Album tatsächlich vorher noch nie unter die Ohren gekommen, obwohl die Jungs wohl auch schon wieder fast zehn Bandjahre auf dem Buckel haben. Nun gut, veröffentlichungstechnisch ist der Output der Berliner auch nicht gerade üppig (ein Album, eine Handvoll EPs und eine Split), zudem war aus bekannten Gründen die letzten drei Jahre nicht viel mit schwitzigen Hardcore-Moshpits geboten. Mit Kälter legt das Quintett jetzt also Album Nr. zwei vor. Das Release ermöglicht haben die Labels Refuse Records und Upstartz Records, und nach kurzer Interessensbekundung an einer Besprechung des Albums kam auch schon ein paar Tage später ein liebevoll geschnürtes Paket mit dem guten Stück im 12inch-Format aus dem Hause Upstartz Records ins Haus geflattert.

Für das Albumcover wurde eine schwarz-weiß-Fotografie eines warm eingepackten Kindes gewählt. Wie man in den ausführlichen Linernotes des beigefügten und beidseitig bedruckten DIN A3-Sheets erfährt, handelt es sich bei der Fotografie um ein während der Nordirland-Unruhen aufgenommenes Foto aus dem Bildband „West Belfast 1985-1988“ von Mike Abrahams. Die angstvolle und skeptische Mimik des Kinds über die damalige Situation und den Zustand der Gesellschaft spricht Bände, übertragen in unsere derzeitige Lage rund um die Erde steht der Kummer und die Sorgen dieses Kindes stellvertretend dafür, was ja durch den Albumtitel noch verstärkt wird. Zusätzlich zu den Linernotes sind auf der Innenhülle die deutschsprachigen Texte (mit teils anderssprachigen Parts bzw. Guest-Vocals) abgedruckt. Und natürlich gibt es einen Downloadcode und ein Aufkleber mit dem Slogan Youth Crew Punk ist auch noch mit dabei. Das ist heutzutage bei den Papier- und Druckkosten nicht mehr selbstverständlich und unterstreicht deshalb nur nochmals die Wichtigkeit des Inhalts und das Herzblut der am Release beteiligten Menschen. Hardcore heißt wieder kämpfen, politische Inhalte, Gesellschaftskritik und eine optimistische Stimme gegen die Gesamtscheiße schienen in den letzten Jahren im Hardcorebereich leider immer unwichtiger zu werden und Schwach liefern durchaus reichlich klischeefreies Gedankenfutter und Kritik in diese Richtung.

Und sobald die Nadel aufsetzt, ist man dazu verdammt, den Lautstärkeregler der Anlage enorm zu erhöhen, denn das Geballer des Openers braucht Volumen! Geil, das Gebretter erinnert aufgrund der deutschen Texte mit Inhalt und natürlich aufgrund des derben Geschreis an Bands wie Hammerhead, Empowerment (bzw. Sidekick), Growing Movement oder Bombers From Burundi, die Youth Crew-Polit-Inspiration kommt dann von Bands wie Miozän, Nations On Fire oder Seein‘ Red. Energiegeladene Power, wütend und roh, super abgemischt (Tonmeisterei mal wieder), knackig und auf den Punkt! Obwohl das Ganze schön fett klingt (Gitarre, Bass, Drums und Gesang sind absolut gleichwertig abgemischt), merkt man den deutlichen Punk-Background der Berliner. Und das liegt nicht nur am Text zum Song Gedankenpalast, in dem einschlägige Bands wie Highscore, Schleim-Keim und Muff Potter Erwähnung finden, sondern durchaus auch am hardcorepunkigen Sound des Quintetts, den man im Verlauf des Albums zu hören bekommt. Außerdem wird nach dem Geknüppel des Openers gleich klar, dass die Jungs auch groovig können, zudem gefällt mir im Verlauf des Albums die Vielseitigkeit und die Fülle an Ideen, die aber nicht wild durcheinander Chaos erzeugen, sondern ausgeklügelt zusammengeschnürt ein komplexes Ganzes geben! Verdammt geil find ich z.B. das bei einigen Songs eingesetzte Saxophongedudel, das kommt ziemlich genial rum! Insgesamt sind zwölf Songs zu hören, die mit jedem Durchlauf weiter wachsen und dann auch irgendwann richtig gut ins Ohr gehen, so dass dem nächsten Circlepit mit Massenansturm auf’s Mikro eigentlich nichts mehr im Wege stehen dürfte. Und nach einem anstrengenden Tag mit viel menschlichem Müll läst es sich hierzu richtig gut abreagieren!

8/10

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