We Never Learned To Live – „Silently, I Threw Them Skyward“, (Through Love Records/Holy Roar)

In meinen Sturm und Drang-Zeiten hätte ich alles auf mich genommen, We Never Learned To Live so oft wie möglich live zu sehen. Zu meiner Schande muss ich deshalb gestehen, dass ich trotz des innigen Verlangens noch nie das sinnliche Vergnügen hatte, die Jungs jemals live zu erleben. Ist es schon soweit, dass ich es alltagsgeschädigt verlernt habe, zu leben? Zugegeben, man gibt mit dem Alter wirklich vieles auf, z.B. traue ich mich mit meiner nicht wirklich verheilten Knieverletzung so richtig auf’s Skateboard, was ja schon echt ein schwerwiegender Eingriff ins alltägliche Leben darstellt, zudem nehme ich mit zunehmendem Greisentum überall ein wenig Tempo raus, absolut memmenhaft halt. Naja, jetzt ist es raus: ich hab’s aufgegeben, dem Phantom der Jugend nachzujagen und mich offiziell in einen Spießer verwandelt, haha. Vielleicht sollte ich endlich mal meine Ängste über Bord werfen und alle ärztlichen Ratschläge ignorieren, das Leben voll auskosten, den Verstand ausblenden, so wie früher halt. Solche Gedanken schwirren mir immer im Kopf, wenn ich den absolut genialen Bandnamen lese.

Wenn das Debut-Album der britischen Band meine Kopfhörer flutet, dann spüre ich direkt beim ersten Durchlauf die Sehnsucht und das Verlangen, mit etlichen Leuten in der Dunkelheit abzutauchen und absolut exzessiv auszuflippen, einfach ’ne gute Zeit zu haben und intensiv den Sound und die Vibes dieser Band mit jeder Faser meiner Haut aufzusaugen. Vom ersten Ton an wird man von diesem Hammer-Album gefesselt, die acht Songs lassen Dich nicht mehr los, mir ergeht es jedenfalls so. Ein Album, das mit jedem weiteren Durchlauf richtig süchtig macht und welches das Zeug zum Meilenstein hat, da bin ich mir sicher. So wie manche Leute auf Impulse wie einen Augenaufschlag oder bestimmendes Fingerschnippen wohlwollend reagieren, so besitzt die Musik des Quintetts aus Brighton die Fähigkeit, Deine Sinne zu stimulieren und Dich total in einen Sog reinzuziehen, aus dem Du gar nicht mehr raus willst.

Den ersten Kontakt mit We Never Learned To Live hatte ich auf Bandcamp, als die Debut-EP der Jungs noch als Tape von der Band selbst auf DIY-Basis vertrieben wurde. Wohl war ich nicht die einzige Person, die mit dem Sound der Briten warm wurde, denn das 3-Song-EP-Tape war ruckzuck vergriffen und es dauerte nicht allzu lange, bis sich das Hamburger DIY-Label Through Love Records dazu entschlossen hatte, dieses Schmuckstück zu einer wundervoll schönen 12inch zu verarbeiten. Dafür (und für so einiges anderes) bin ich Through Love unendlich dankbar. Auch bei der nachfolgenden Split 7inch mit Human Future war das unheimliche Potential der Briten deutlich zu spüren, obwohl da nur ein Song drauf ist.

Aber stochern wir nicht in der Vergangenheit der Jungs herum, denn die aktuelle Veröffentlichung stellt einen weiteren Boxenstopp auf dem Weg in den Post-Hardcore/Screamo-Himmel dar. So eine intensive Gesamtstimmung hätte ich der Band in dieser Form nie und nimmer zugetraut. We Never Learned To Live gehen auf diesem Release sehr viel melodischer als bisher zur Sache, da kommen bei den ruhigeren Parts teilweise Bands wie die frühen Thrice in den Sinn, da wird Post-Hardcore mit delayartigen Post-Rock-Parts gemischt, da werden ruhige, atmosphärische und fast mystisch anmutende Klangwelten mit schwer runtergestimmten Gitarren und donnernd gespieltem Schlagzeug gefüttert. Melancholie ist allgegenwärtig. V.a. der verletzliche Gesang von Sean Mahon sorgt für die ein oder andere Gänsehaut, die ruhigen Parts lassen nur entfernt erahnen, welches Volumen die Stimme annimmt, wenn erst mal herzzerreißend geschrien wird, was schonmal völlig unerwartet und aus heiterem Himmel heraus passieren kann. Unglaublich. Das Gefühl von ehrlichem, tief emotionalem und intensiv gelebtem Glauben an die dargebotene Musik ist allgegenwärtig, zudem hat man beim symbolträchtigen Coverartwork einiges zu schauen.

Das Ding kann einen wie einer dieser langen erschöpfenden Träume fesseln, in denen man zu spät zur Arbeit/Schule kommt, ständig den Bus verpasst, nicht vorwärtskommt, weil der Boden glatt oder mit Seife eingeschmiert ist usw. Auch wenn die neue Refused durchaus interessant klingt, bedeutet mir persönlich dieses Meisterwerk so verdammt viel, dass es die Höchstpunktzahl verdient hat.

10/10

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