
Da war ganz schön Gewusel in der fjørt-Fankurve, als die Band im April letzten Jahres ankündigte, an zwei Tagen im August in Köln und in Hamburg an je einem Tag in vier verschiedenen Clubs ihre komplette Discographie live zu präsentieren. Immerhin war es nach ein paar Festivalshows im Jahr 2019 ziemlich ruhig um die Band, auch während der Covid19-Pandemie gab es keinerlei Lebenszeichen auf den Social Media-Plattformen. Und dann, plötzlich – quasi aus dem Nichts – diese ohne viel begleitende Worte erfolgte Ankündigung der Diskographie-Konzerte: da kann man als Fan schon mal nervös werden und befürchten, dass die Pandemie der Band vielleicht ein Ende gesetzt hat, zumal seit dem Couleur-Album seit 2017 auch keine Veröffentlichung des Trios mehr zu verbuchen war. Ohne neues Material im Rücken live zu spielen, ist ja eigentlich auch eher die Ausnahme. Dennoch – oder auch gerade deshalb – waren die Konzerte innerhalb kürzester Zeit restlos ausverkauft. Ein gutes Zeichen für eine treue Fangemeinde! Alle, die sich einen Platz ergattern konnten, waren nach diesem Show-Erlebnis sicher mehrere Wochen im Glückstaumel, zumal die Band als „Zugabe“ mit den Songs lod, bonheur und fernost drei neue Kompositionen zum Besten gab und damit schon mal einen Vorgeschmack auf das für den 11.November angekündigte neue Album gab (übrigens gibt es von dieser Szene ein Live-Video zu sehen).
[nıçts] ist in vier verschiedenen Versionen erschienen, u.a. gibt es eine Gatefold-LP mit farbigem Vinyl, eine 7inch-Vinylsingle-Abo-Box, eine Standard LP-Version und natürlich eine CD. Hoch erfreut bin ich über mein erhaltenes Bemusterungsexemplar, in meinem Fall die Standard LP. Einfach nur Liebe! Das minimalistische aber dennoch prägnante Albumartwork ist jedenfalls ein echter Hingucker, auch die verschiedenen Fotos der symbolhaften Draht/Lötzinn/Kabel-Kunstwerke im edlen Textheftchen wären Motive, die man sich ohne weiteres als Kunstdruck-Reihe in die Wohnung hängen könnte. Gestaltet hat übrigens wie auch bereits auf früheren fjørt-Veröffentlichungen Freya Paul. Sehr schön in Szene gesetzt und gewaltiges Kopfkino in Sachen Merchandise-Ideen! Wie wär’s z.B. mit veganer Lakritze?
fjørt ist jedenfalls eine Band, die mit Herzblut, Leidenschaft, unbändiger Spielfreude und mit sehr viel Verstand und Tiefgründigkeit bei der Sache ist. Das spürt man spätestens beim Besuch einer Show, beim sympathischen Smalltalk am Merchstand, beim Lesen eines x-beliebigen Interviews und natürlich beim konzentrierten Lauschen der bisherigen Veröffentlichungen. Und auch das neue Stück Musik zeigt wieder, dass hier mit Haut und Haaren gekämpft und gelitten wird! Die ersten Tonträger wurden innerhalb von fünf Jahren veröffentlicht, in dieser Zeit wuchs die Band vom DIY-Geheimtipp zum Post-Hardcore-Liebling. Auch wenn sich die Band von Release zu Release etwas weiterentwickelt hat, hätte ich diesen Rutsch in die Perfektion auf [nıçts] so nicht erwartet! Da muss man erst mal wieder den Mund zubekommen, nachdem die erste Hörrunde absolviert ist und man den Drang hat, direkt zig weitere folgen zu lassen! Einfach nur wow!
Vom bombastischen Sound (Beray Habip) angefangen, bis hin zu den stimmigen und brachialen Songarrangements, den diesmal ohne kryptische Bildersprache deutlicher formulierten Lyrics und den im Vergleich zu den bisherigen Veröffentlichungen softeren Parts mit gesungenen Vocals ist das Album einfach nur grandios geworden, v.a. die häufigen Clean-Gesangsparts werten den Sound von fjørt gewaltig auf. Auch das im Albumtitel genannte zentrale Thema zieht sich wie ein roter Faden durch das Album, dazu passend die symbolhaften Motive im Artwork. Willkommen in der Achterbahn der Emotionen! Das dachte ich mir bei den ersten Hörrunden, denn hier gibt es ein breites Spektrum dazu: da sind zahlreiche Gänsehautparts vorhanden, hier hat man einen riesigen Kloß im Hals, dort bekommt man einen gewaltigen Tritt in die Magengrube, hier freut man sich über die textliche Hommage an die Band Kill.Kim.Novak. und dort gibt es einen kleinen Lichtschimmer mit fast schon poppigen Klängen bei fünfegrade! So viel Druck, so viel Wucht, so viel Hoffnungslosigkeit! Die direkte Benennung unserer gesellschaftlichen Defizite steigert das unangenehme und unbequeme Gefühl sehr viel mehr als die bisher eher kryptischen Anspielungen, die viel Freiraum für Interpretationen zuließen. Bestes Beispiel sind hier die Songs kolt und lakk, die diese innere Leere und dieses machtlose Gefühl spürbar machen. Gerade lakk hat so viel Hoffnungslosigkeit in sich, die zarte Kinderstimme im Kontrast dazu, einfach unbeschreiblich! Ganz großes Kino! Ich würde sagen, dass wir hier einen Meilenstein in Sachen deutschsprachigem Post-Hardcore haben, ein Gesamtkunstwerk der Extraklasse!
10/10
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