fjørt – “ [nıçts] “ (Grand Hotel van Cleef)

Da war ganz schön Gewusel in der fjørt-Fankurve, als die Band im April letzten Jahres ankündigte, an zwei Tagen im August in Köln und in Hamburg an je einem Tag in vier verschiedenen Clubs ihre komplette Discographie live zu präsentieren. Immerhin war es nach ein paar Festivalshows im Jahr 2019 ziemlich ruhig um die Band, auch während der Covid19-Pandemie gab es keinerlei Lebenszeichen auf den Social Media-Plattformen. Und dann, plötzlich – quasi aus dem Nichts – diese ohne viel begleitende Worte erfolgte Ankündigung der Diskographie-Konzerte: da kann man als Fan schon mal nervös werden und befürchten, dass die Pandemie der Band vielleicht ein Ende gesetzt hat, zumal seit dem Couleur-Album seit 2017 auch keine Veröffentlichung des Trios mehr zu verbuchen war. Ohne neues Material im Rücken live zu spielen, ist ja eigentlich auch eher die Ausnahme. Dennoch – oder auch gerade deshalb – waren die Konzerte innerhalb kürzester Zeit restlos ausverkauft. Ein gutes Zeichen für eine treue Fangemeinde! Alle, die sich einen Platz ergattern konnten, waren nach diesem Show-Erlebnis sicher mehrere Wochen im Glückstaumel, zumal die Band als „Zugabe“ mit den Songs lod, bonheur und fernost drei neue Kompositionen zum Besten gab und damit schon mal einen Vorgeschmack auf das für den 11.November angekündigte neue Album gab (übrigens gibt es von dieser Szene ein Live-Video zu sehen).

[nıçts] ist in vier verschiedenen Versionen erschienen, u.a. gibt es eine Gatefold-LP mit farbigem Vinyl, eine 7inch-Vinylsingle-Abo-Box, eine Standard LP-Version und natürlich eine CD. Hoch erfreut bin ich über mein erhaltenes Bemusterungsexemplar, in meinem Fall die Standard LP. Einfach nur Liebe! Das minimalistische aber dennoch prägnante Albumartwork ist jedenfalls ein echter Hingucker, auch die verschiedenen Fotos der symbolhaften Draht/Lötzinn/Kabel-Kunstwerke im edlen Textheftchen wären Motive, die man sich ohne weiteres als Kunstdruck-Reihe in die Wohnung hängen könnte. Gestaltet hat übrigens wie auch bereits auf früheren fjørt-Veröffentlichungen Freya Paul. Sehr schön in Szene gesetzt und gewaltiges Kopfkino in Sachen Merchandise-Ideen! Wie wär’s z.B. mit veganer Lakritze?

fjørt ist jedenfalls eine Band, die mit Herzblut, Leidenschaft, unbändiger Spielfreude und mit sehr viel Verstand und Tiefgründigkeit bei der Sache ist. Das spürt man spätestens beim Besuch einer Show, beim sympathischen Smalltalk am Merchstand, beim Lesen eines x-beliebigen Interviews und natürlich beim konzentrierten Lauschen der bisherigen Veröffentlichungen. Und auch das neue Stück Musik zeigt wieder, dass hier mit Haut und Haaren gekämpft und gelitten wird! Die ersten Tonträger wurden innerhalb von fünf Jahren veröffentlicht, in dieser Zeit wuchs die Band vom DIY-Geheimtipp zum Post-Hardcore-Liebling. Auch wenn sich die Band von Release zu Release etwas weiterentwickelt hat, hätte ich diesen Rutsch in die Perfektion auf [nıçts] so nicht erwartet! Da muss man erst mal wieder den Mund zubekommen, nachdem die erste Hörrunde absolviert ist und man den Drang hat, direkt zig weitere folgen zu lassen! Einfach nur wow!

Vom bombastischen Sound (Beray Habip) angefangen, bis hin zu den stimmigen und brachialen Songarrangements, den diesmal ohne kryptische Bildersprache deutlicher formulierten Lyrics und den im Vergleich zu den bisherigen Veröffentlichungen softeren Parts mit gesungenen Vocals ist das Album einfach nur grandios geworden, v.a. die häufigen Clean-Gesangsparts werten den Sound von fjørt gewaltig auf. Auch das im Albumtitel genannte zentrale Thema zieht sich wie ein roter Faden durch das Album, dazu passend die symbolhaften Motive im Artwork. Willkommen in der Achterbahn der Emotionen! Das dachte ich mir bei den ersten Hörrunden, denn hier gibt es ein breites Spektrum dazu: da sind zahlreiche Gänsehautparts vorhanden, hier hat man einen riesigen Kloß im Hals, dort bekommt man einen gewaltigen Tritt in die Magengrube, hier freut man sich über die textliche Hommage an die Band Kill.Kim.Novak. und dort gibt es einen kleinen Lichtschimmer mit fast schon poppigen Klängen bei fünfegrade! So viel Druck, so viel Wucht, so viel Hoffnungslosigkeit! Die direkte Benennung unserer gesellschaftlichen Defizite steigert das unangenehme und unbequeme Gefühl sehr viel mehr als die bisher eher kryptischen Anspielungen, die viel Freiraum für Interpretationen zuließen. Bestes Beispiel sind hier die Songs kolt und lakk, die diese innere Leere und dieses machtlose Gefühl spürbar machen. Gerade lakk hat so viel Hoffnungslosigkeit in sich, die zarte Kinderstimme im Kontrast dazu, einfach unbeschreiblich! Ganz großes Kino! Ich würde sagen, dass wir hier einen Meilenstein in Sachen deutschsprachigem Post-Hardcore haben, ein Gesamtkunstwerk der Extraklasse!

10/10

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Reveries – „Middle Hideout“ (Hithome)

Gleich vorneweg, um die Verwechslungsgefahr aus dem Weg zu räumen: bei dieser Band Reveries handelt es sich nicht um die Emo-Hardcore-Band aus Boston, sondern um ein Quintett aus Köln, das musikalisch irgendwo im Indierock zu verorten ist. Die Band gründete sich im Jahr 2017 aus einem Singer-Songwriter-Projekt des Leadsängers Max Altmeyer heraus, bisher wurden eine Handvoll Singles und EPs veröffentlicht. Middle Hideout stellt also nun das Debutalbum der Band dar. Und so wie es aussieht, ist die Band voller DIY-Tatendrang, denn auf dem Debutalbum wurde vieles selbstgemacht. So wurden die elf Songs selbst aufgenommen und produziert. Die 12inch sieht mit dem geheimnisvollen Coverartwork schon mal toll aus, hier bekommt man später noch genügend Zeit zu rätseln, was die verschwommene Aufnahme darstellen könnte. Ein bisschen schade ist, dass die Innenhülle nur mit den Infos zum Release bedruckt ist und die Texte leider fehlen. Dafür kann das durchsichtige Vinyl punkten.

Und dann ist da ja auch noch die fabelhafte Musik der Kölner. Der Funke sprang bei mir sofort bei den ersten Klängen über und der äußerst warme Sound hat nach etlichen Hörrunden sogar noch an Eindruck gewonnen. Reveries sind im verträumten Indie-Sound der Nuller zuhause, ganz viel Melancholie ist hier mit an Bord, natürlich kommen auch Pop-Elemente und Emo-Rock zum Einsatz. Die Jungs haben sicher Platten von Bands wie Stars, Death Cab For Cutie, Velveteen, Broken Social Scene oder Eeels im Schrank stehen, denn in diese Richtung geht es musikalisch. Gerade der Opener erinnert mit seinem male/female Gesang stark an Stars. Die A-Seite huscht jedenfalls so schnell vorbei, dass man ganz erschrocken aus der von Songs wie beispielsweise Calm Fields, Feel Back oder Same Talks inspirierten Träumerei erwacht, sobald die Nadel in der Auslaufrille verweilt. Auch auf der B-Seite wird es zu keiner Zeit langweilig. Das Songwriting ist schön ausgetüftelt, hier und da kommen zusätzliche Instrumente wie Saxophon, Synthies, elektronische Spielereien oder Orgeln zum Einsatz. Highlights der B-Seite sind für mich die Songs Moments, Routine und Balance.

Und auch textlich hat die Band tiefgründiges zu erzählen. Der Albumtitel ist als Versteck zu verstehen, in das man sich verkriecht, wenn man sich voller Selbstzweifel unsicher über den weiteren persönlichen Werdegang im Leben ist. Weitere Inhalte sind mentale Gesundheit, die Fallen in der täglichen Routine oder Versagensängste. Also durchaus Food For Thought!
Eigentlich sollte das Album als Ganzes am Stück über gute Kopfhörer gehört werden, dann gelingt das Eintauchen in die Welt von Reveries umso besser! Natürlich funktioniert die Platte auch als Begleitung für ein ausgiebiges Sonntagsfrühstück. Ich hab jedenfalls mit Middle Hideout die perfekte Platte gefunden, um eine halbe Stunde am Stück runterzukommen und zu entspannen!

8/10

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Liotta Seoul – „Worse“ (Krod Records)

Es macht echt Laune, wenn man nach ’nem miesen Tag heim kommt und ein Plattenpaket vor der Tür auf einen wartet. Klar, damit war zu rechnen, da ich ein paar Tage zuvor völlig geschockt ’ne Anfragemail von vor etlichen Monaten checkte und vom Inhalt sofort Blut geleckt hatte. Konnte kaum glauben, dass aufgrund meiner verzögerten Antwort wirklich noch physische Bemusterungsexemplare vorhanden waren und ich direkt sogar die 12inch-Version dieses mittlerweile dritten Albums der Band Liotta Seoul aus Koblenz zugeschickt bekam. Wahnsinn! Und dann auch noch so ein optisch schöner Hingucker! Luftsprung! Das Albumartwork kommt im Comic/Graphic Novel-Stil daher, ein schön gestaltetes Textblatt ist ebenso mit von der Partie und das rosafarbene Vinyl mit Marmorstruktur erhellt sofort meine eingangs beschriebene düstere Laune. Und natürlich zaubert mir der Sound der Koblenzer ab dem ersten Ton ein unvorteilhaftes und entrücktes Grinsen ins Gesicht! Yeah!

Ja, so muss das sein! Zuckersweete Melodien treffen auf catchy Parts und dabei darf die Melancholie und auch der Humor nicht zu kurz kommen! Hier dürften sich alle zuhause fühlen, die in den Neunzigern mit abgerissenen Klamotten und wilden Zottelhaaren unterwegs waren und ein wenig später die schweren bordeauxfarbenen Stahlkappen-Docs und den zu mainstream gewordenen Grunge gegen abgelatschte Sneakers, myspace und hymnenhaften Emo-Rock auswechselten. So in etwa klingen Liotta Seoul dann auch, sie kombinieren Grunge und Emo-Rock, addieren noch ’ne gewisse Slacker-Attitude und schielen darüber hinaus auch immer mal wieder noch in Richtung Pop, Indie-Rock und sogar Nu-Metal.

Während der musikalischen Reise durch das acht Songs starke Album kommen Bands wie Nirvana, Thursday, 30 Seconds To Mars, Weezer, frühe Foo Fighters, Smashing Pumpkins in ihrer Hochphase oder MightyMacFluff (harr harr) in den Sinn. Abwechslungsreich und absolut ausgetüftelt hört sich das im Gesamten an, die Songs funktionieren zusammen sehr gut! Und dabei handelt es sich bei dem Album um insgesamt acht Singles, die die Band in den letzten sechs Monaten vor dem Release des Albums veröffentlicht hat. Und bereits beim zweiten Durchlauf merkt man, dass diese acht Songs richtige Ohrwürmer sind. Darüber hinaus klingt der Sound fett und klar, da kann man auch mal über einen Vocoder-Effekt hinwegsehen. Für mich persönlich – wie eingangs erwähnt – ist Worse eine absolute gute-Laune-Platte!

9/10

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ProvinzPostille #9 + Tape – Herbst 2022

Schon geil, da kommt pünktlich zu Weihnachten ein liebevoll geschnürtes Paket aus Baden-Baden ins Haus geflattert. Neben der neulich besprochenen pADDELNoHNEkANU-7inch ist auch die neue ProvinzPostille mitsamt Tape-Compilation am Start! Geil, oder? Das im liebevollen DIY-Stil gefertigte DIN A5-Zine erinnert mich an die gute alte Zeit, als man die Dinger entweder jemandem aus dem Bauchladen auf ’nem Konzert für ein paar Mark abkaufte oder gar ein bisschen abgefahrener per Brief mit beigelegten Briefmarken bestellte. Ja, das war lange Zeit vor dem Internet. Und irgendwie machen mich solche Formate auch heute noch glücklich, auch wenn man sich durch wenige Klicks im World Wide Web den absoluten Durchblick schaffen kann. Drauf geschissen, denn manche Inhalte lesen sich einfach analog besser. So auch hier, dazu kann man auch noch puzzeln, wenn mal die eine Seite zu Ende ist und die nächste vom Sinn her einfach nicht dazu passen will. Yeah, DIY forever!

Der Umschlag ist diesmal auch wieder besiebdruckt und fühlt sich schön kratzig an, die Seiten sind wie immer kopiert und alles ist zusammengetackert. Zwischendrin sind ein paar Hochglanz-Farbdruckseiten mit Live-Bildern zu sehen. Nettes Gimmick, aber eigentlich nicht unbedingt nötig. Dennoch sehr sympathisch, da die ProvinzPostille an vielen Stellen dieses Ego-Zine-Feeling vermittelt und halt einfach gemacht wird, was selbst gefällt. Inhaltlich gibt es natürlich wieder viele persönlichen Gedanken zu lesen, Tagebuchstyle yeah! Bei den Interviews stürzte ich mich zuerst auf Black Square, da deren Album Blumen am Abgrund ganz pfiffig war, außerdem war es auch gleich das erste Interview im Zine. Mein Highlight war aber dann das Interview mit Krause Glucke Weltverschwörung, die eigentlich ganz in der Nähe von mir (Konstanz) beheimatet sind und ich die Band bisher nur vom Namen her kannte (haben mal mit den Ravensburgern alter egon gezockt). War zwar neugierig, wie die Band wohl klingen mag, hab dann aber erst später nach der Lektüre das Quartett auf Tape-Compilation für noch interessanter befunden. Und ja, hüstel…dank Bandcamp hab ich jetzt alle dort verfügbaren Veröffentlichungen auf der Festplatte und falls ich mich jemals wieder auf Konzerte traue, ist es nicht unwahrscheinlich, dass ich da mal vorbei schaue. Jedenfalls macht das Lesen umso mehr Laune, wenn man regionalen Bezug zur Band hat. War zwar schon seit Ewigkeiten nicht mehr in Konstanz (die Fähre über den Bodensee ist nicht gerade billig!), aber der legendäre alte Horst Klub in Kreuzlingen ist ebenso präsent wie das Contrast in Konstanz oder die alte und leider nicht mehr existente Remise in Wil in der Schweiz. Ach ja, das Slime-Interview klingt ganz sympathisch, hab die neuen Slime aber bisher immer noch nicht angecheckt. Aber mach ich schon noch. Ach ja, weitere interessante Interviews gibts mit der Band Zero Zeros und Syndrome 81, dazu sind noch diverse Gastbeiträge dabei.

Und dann ist da ja noch die 36 Songs starke Compilation, bei der ich ohne zu gucken die Band Syndrome 81 herausgehört habe, ohne deren Sound zu kennen, also allein aufgrund des Interviews. Jedenfalls gibt das Tape einen guten Überblick über die Subkultur-Szene, freue mich natürlich über alte Kumpels wie Hell & Back oder Zeugs wie El Mariachi, aber die eigentlichen Helden sind die mir absolut unbekannten Rumpel-Bands oder gar HipHop-Sounds wie z.B. Lena Stoehrfaktor. Sehr abwechslungsreich! Bestellt euch das Ding, da steckt viel Arbeit und DIY-Spirit drin!

ProvinzPostille / Bandcamp


Brexit Colada – „Das Erbe“ (Tanz auf Ruinen Records)

Ziemlich verblüfft war ich, als die Besprechungsanfrage zu diesem Release hier bei mir eintraf und ich ein erstes Öhrchen riskierte. Wow! Absolut genrefremd zwar, aber drauf geschissen: die mit der Anfrage gesendeten Videos berührten mich total, v.a. der Song Freiheit hat es mir direkt angetan! Und kaum war die Interessenbekundung an einer Besprechung raus, kam auch schon wenige Tage später die Vinylversion ins Haus geflattert! Die Neugier über die Band trieb mich voran: eine Recherche später merke ich schon, dass ich mich in meiner Wortwahl ein wenig zügeln muss: das deutsche female/male-Duo Brexit Colada kommt nach eigener Angabe aus deutschem Adel, da sind der Intellekt und die guten Manieren auch nicht weit. Also, Gossensprache adieu! Au Backe, holy shit! Ich glaub das jetzt mal, da die lyrischen Ergüsse und die mit zarten Fingern auf dem Klavier – hüstel Konzertflügel – gespielten Noten deutliche Anzeichen dafür sind. Oder soll ich mal Böhmermann für ’ne ausführliche Recherche anheuern? Danger Dan ist mit ähnlicher Musik und Message durch das Böhmermannsche TV-Modell auch irgendwie durch die Decke gegangen.

Brexit Colada, das sind wohl die beiden unter Pseudonym agierenden Brexit von Buttlar und Farina Colada. Füttert ruhig die Internetsuchmaschine, dann findet ihr schnell heraus, dass hier die ebenfalls auf der Plattenhülle abgedruckten Personen Lionel Tomm und Farina Jäger-Stabenow dahinter stecken. Beide sind schon seit ein paar Jährchen in Hamburg in der Kunstszene aktiv, die Straßenkunst, das Theater und andere Performances haben dazu geführt, dass die beiden nun mit Das Erbe ein Musiktheaterstück mit anarchistischen Zügen und auch ein dementsprechendes Album an den Start gebracht haben. Das LP-Cover ist so unheimlich weich, dass sich auf dem edlen Papier jeglicher Fingerabdruck abzeichnet. Schlechte Voraussetzungen für anarchistische Aktionen. Aber mit einem weichen Brillentuch, das wir anarchistischen Intellektuellen ja stets mit uns führen, sind die fettigen Wurstfingerabdrücke im Nu rauspoliert!

Das Foto vom Albumcover ist sicher im Rahmen des Videodrehs zum Song Freiheit entstanden. Auf dem Backcover ist der Konzertflügel abgebildet. Solche edlen Flügel stehen ja sonst immer in millionenschweren Villen, daher ist der Kontrast mit der abgeranzten Fabrikhalle ganz pfiffig. Helft den Reichen, damit sie sich wieder ein ordentliches Dach für ihren Konzertflügel auf eure Kosten leisten können! Die fetten Jahre sind nämlich vorbei! Ziemlich sympathisch find ich die Innenhülle, auf der die in deutscher Sprache verfassten Texte abgedruckt sind und in schöner DIY-Manier handschriftlich die Nummer eingetragen wurde. Aha, 300 Stück wurden produziert, und alle Innenhüllen lassen sich ebenfalls mit dem Brillentuch polieren! Die Labels der A- und B-Seite sind auch handschriftlich gekennzeichnet, yeah! Und dann, sobald die Nadel auf die Rille gesetzt wird, dann kann die Reise los gehen, gerade auf Vinyl wirkt das Album enorm! Kopfhörer sind nicht verkehrt, um in die Welt von Brexit Colada einzutauchen! Die zwei machen genau das, was sie wollen und geben einen Scheiß auf momentan angesagte Musik-Trends. Genau das gefällt mir unheimlich! Der größte Anteil in der Musik dürfte unter Klassik fallen, es gibt aber auch Elemente aus Punk, Hip-Hop, Pop, Elektro, Techno oder Folk zu hören, vorwiegend auf der B-Seite der 12inch. Die Songs sind aufgrund der verwendeten Instrumente zwar ziemlich ruhig gehalten, dennoch ist die Wut und die Leidenschaft der beiden zu spüren! Und gerade diese Leidenschaft und dieser irre Bezug zur eigenen Kunst machen den Reiz des Releases aus. Live sicherlich toll anzusehen! Und dann gibt’s neben dem Konzertflügel auch elektronische Spielereien zu hören, der female/male-Gesang ist auch harmonisch, manchmal aber auch etwas schräg bzw. eben halt theatralisch. Die popkulturellen Anspielungen in den kritischen und anprangernden Texten sind jedenfalls spitze (Grauzone, Rhianna) und auch sonst nimmt das Duo kein Blatt vor den Mund und bringt alles auf den Tisch, was in unserer Gesellschaft und Welt schief läuft. Wenn ihr also Zeug wie Hauke Henkel oder Danger Dan mögt, dann wäre Brexit Colada eine dicke Empfehlung!

8/10

Instagram / Bandcamp / Tanz auf Ruinen Records


Bandsalat: Ernte 77, Franz Fuexe, Freedumb, Hot Mass, Pembe, Team Tyson

Ernte 77 – „Das rote Album“ (Rookie Records) [Stream]
Deutschpunk ist ja jetzt mittlerweile nicht mehr so mein Thema, aber das vierte Album der Kölner Band Ernte 77 macht mir ganz schön viel Freude. Das liegt am melodischen Vibe, der sich durch die vierzehn Songs zieht und sehr an die 90’s-Cali-Punk-Zeit erinnert, dazu wissen die humorvollen und auch sozialkritischen Lyrics zu gefallen. Gerade der Humor scheint ein ständiger Begleiter des Trios zu sein, wie man bereits am Albumtitel und Artwork sehen kann, vorausgesetzt man hat keine rot-grün-Schwäche! Aber Vorsicht, das Label Fun-Punk ist hier unangebracht, dazu sind die Texte viel zu intelligent. Übrigens kann man diese im liebevoll gestalteten DIY-Textheftchen nachlesen, da stöbert es sich doch gerne! Dazu schleichen sich immer wieder nette Zitate aus der popkulturellen Geschichte zwischen die Zeilen. Musikalisch ist die Abwechslung zu begrüßen, denn auch wenn die Hooklines so catchy in die Hörgänge kriechen, freut man sich an den Referenzen zum Indie-Rock, Garage-Punk, NDW, Elektro und Alternative. Ich find’s irgendwie geil!


Franz Fuexe – „Selftitled“ (Honigdachs) [Stream]
Ach Du Scheiße, wir müssen reden! Und zwar über die Band Franz Fuexe, die mir aufgrund einer Besprechungsanfrage direkt ins Auge/Ohr gestochen ist! Wahnsinn, warum gibt’s Algorhythmen, wenn mir das hier nicht schon zuvor automatisch vorgeschlagen wurde? Franz Fuexe kommen irgendwie aus Österreich, genauer gesagt aus Wien. Wer jetzt Cafe-Haus-Chill-Out erwartet und völlig ausgehungert von ’ner Melange träumt, kann direkt kacken gehen (groß und richtig heftig). Und bitte richtig derb und ohne danach das Fenster zu öffnen! Denn die Band orientiert sich an Hardcoreknüppelsounds aus den frühen Achtzigern bis hin in die Neunziger, scheut aber auch den Kontakt zur modernen Zeit und ihren vielfältigen Möglichkeiten nicht. Habt ihr’s in der Nase, diesen Geruch von altem und verschimmeltem Proberaumteppich? Ich schon! Und dann ist da noch Dank der mundartlichen Lyrics dieser spezielle Özi-Humor, den ich so sehr liebe! Kottan ermittelt, der Aufschneider, Der Knochenmann, Ein Haus am Wörthersee, (fast) alles so gut [finde den Fehler]! Aber wieder zur Mucke! Kennt ihr noch Discharge, die Dead Kennedys oder Anthrax? Stellt euch die mal mit österreichischen Mundarttexten vor, Wiener Schmäh inklusive! Geil, oder? Aber hallo! Müsst ihr euch echt mal reinwürgen!


Freedumb – „Social Hangover“ (Fucking North Pole Records) [Stream]
Die norwegische Hardcore-Punk-Band Freedumb treibt auch schon seit 2003 ihr Unwesen, nach diversen Line-Up-Wechseln und dem Tod des Drummers im Aufnahmeprozess zum Album Post-Modern Dark Age war erstmal eine Auszeit angesagt. Noch vor Ausbruch der Covid-Pandemie suchte die Band einen neuen Drummer und nahm den Aufnahmeprozess wieder auf, so dass das Album Post-Modern Dark Age erscheinen konnte. Mit Social Hangover ist jetzt das vierte Album erschienen. Zu hören sind zehn oldschoolig angehauchte Hardcore-Punk-Granaten, die neben melodiösem Punkrock auch eine emotionale Kante aufweisen.


Hot Mass – „Happy, Smiling And Living The Dream“ (This Charming Man u.a.) [Stream]
Der Band aus Swansea/UK ist mit ihrem zweiten Album ein richtig fluffiges Ding gelungen. Schön gitarrenlastig ist der erste Eindruck, die Mischung aus Emo, Grunge, Indie und Punk erinnert mich das ein und andere Mal an die großartigen Brand New Unit, neuere Bands wie The Copyrights oder Iron Chick kommen auch in den Sinn. Ich mag die melodische Art und die stimmigen Songarrangements, die melancholischen Untertöne sind ebenfalls klasse. Ein richtig gutes Album, zwölf Songs für die Ewigkeit!


Pembe – „Hepimizin Evi“ (Dingleberry Records u.a.) [Stream]
In der DIY-Hardcore/Screamo-Szene der Türkei gibt es auch immer wieder cooles Zeug zu entdecken, aktuell hat die bereits in einer älteren Bandsalat-Runde vorgestellte Istanbuler Band Pembe ihr zweites Album am Start. Und bereits an der Mitwirkung der zahlreichen Labels merkt man, dass das hier eine Herzensangelegenheit ist. Die Labels Dingleberry Records, Kolo Records, Nasty Cut Records, Mevzu Records, Entes Anomicos, New Knee Records, Khya Records, Salto Mortale Music, Seitan’s Hell Bike Punks, Fresh Outbreak Records, Abraxas Distro, Friendly Otter DIY, Nothing to Harvest Records und Callous Records sind am Release beteiligt. Musikalisch präsentiert das Quartett ein Gefühlschaos aus 90’s Emocore und impulsivem Screamo, die Lyrics werden in türkischer Sprache und äußerst leidend präsentiert. Cool auch, dass neben den gängigen Instrumenten auch vereinzelt Streicher zu hören sind. Zum Reinfinden würd ich mal den Song Gözlerim Kısık vorschlagen!


Team Tyson – „Soll das jetzt alles sein?“ (Rookie Records) [Stream]
Auf dem vierten Album der Berliner Band Team Tyson gibt es schön schrammeligen und nach vorne gehenden Deutschpunk zu hören, der auf der Gitarrenseite von älterem US-Hardcore á la Circle Jerks oder Off! inspiriert ist. Das tritt dann ordentlich Arsch, so dass die Jungs ihre dreizehn Songs in zwanzig Minuten runterrasseln und dabei auch noch Zeit für die ein oder andere melodische Hook bleibt. Läuft mir gut rein, zumal die Spielfreude nicht zu überhören ist und auch die sozialkritischen Texte alles andere als platt sind. Und wenn man dann denkt, schneller kann’s nicht werden, zaubern die Jungs ganz zum Schluss noch ’nen kurzen D-Beat-Hammer aus dem Ärmel! Sorgt live sicher für schwitzige Pogo-Attacken!


pADDELNoHNEkANU- „Wir streiten aus ästhetischen Gründen nie“ (Krachige Platten u.a.)

Wenn es um DIY und deutschsprachigen Punk mit Köpfchen geht, dann liegt die Baden Badener Band pADDELNoHNEkANU ganz weit vorn! Pünktlich zum 20. Bandjahr-Jubiläum zelebriert das Trio den konstant ausbleibenden Erfolg ihres Schaffens mit einem neuen Siebenzoller, auf dem insgesamt drei Songs in einer Spielzeit von knappen 12 Minuten zu hören sind.

Aber zuerst gilt es, dem haptischen Genuss Tribut zu zollen! In schönster DIY-Ästhetik ist das Scheibchen in ein von Hand zusammengefaltetes Cover eingepackt, hier merkt man die Handschrift von Sänger und Gitarrist Felix, der ja nebenher auch noch als Fanzinemacher (Provinzpostille) tätig ist. Mein Exemplar hat ein rotes Cover, es gibt aber auch noch gelbe und grüne Exemplare. Wenn man das Cover aufgefaltet hat, kommt natürlich erstmal eine schöne Packpapier-farbene Innenhülle zum Vorschein, zudem stechen sofort die Texte und die schönen Banksy-artigen Zeichnungen (Fallschirm-Ratte und Fallschirm-Minor Threat-Schaf) ins Auge. Das mit dem Banksy hab ich übrigens ganz allein erkannt, erst im Nachhinein wurde dieses Erkenntnis mit der Lektüre der neuen Provinzpostille in etwa bestätigt. Sehr geil! Zudem erfährt man, dass die Songs zwischen Frühjar 2021 und 2022 entstanden sind, also inmitten der Covid19-Pandemie in einer Phase, in welcher etliche Mutationen umherkreisten und schwurbelige Montags-Spaziergänger*innen wie Zombies ohne Hirn und fragwürdige Parolen singend durch die Fußgängerzonen Deutschlands wankten. Sicherlich erhielt die ein oder andere geschriebene Zeile Inspiration aus diesem gesellschaftlichen Disaster. Aber zu den Texten später mehr! Außerdem ist zu lesen, dass das Release in Zusammenarbeit der Labels Krachige Platten, 30 Kilo Fieber Records, Elfenart Records und Entez Anomicos erschienen ist. Die Labels der 7inch sind ebenfalls mit Zeichnungen versehen. Und das Vinyl-Scheibchen selbst kommt in dreckiger Goldoptik und sieht so natürlich äußerst shabby chic aus! Ach ja, einen Downloadcode für vinylschonende oder drehfaule Menschen ist selbstverständlich auch mit dabei!


Die A-Seite beginnt mit schön schrammeliger Gitarre und knödeligem Bass, wobei man sich ziemlich schnell in die darauffolgenden quirrligen Gitarrenverrenkungen verliebt, der deutschsprachige Gesang weiß auch zu gefallen, zumal die Textinhalte intelligent und poetisch formuliert sind. Und immer wieder schwingt in der Mischung aus Deutschpunk und Emopunk ein ordentlicher Schuss Melancholie mit. Friss oder stirb fressend ist zudem noch ein sagenhaft guter Songtitel. Danach wird es ein bisschen düster in Dunkeldeutschland, bereits der Songtitel schwarz zu grau spoilert die Stimmung des Songs, den Zustand der Gesellschaft betrauernd. Nun denn, dann ist die A-Seite auch schon vorbei. Der 7inch-Titel gebende Song füllt dann die komplette B-Seite und mäandert sich mit weirden Gitarren in die Hörgänge, das kalte 80er-Punk-Feeling wird hauptsächlich durch Post-Punk-artige Elemente und dissonante Gitarren getragen. Was mir auch ganz gut gefällt, ist die krachige und rauhe Aufnahme, hier wähnt man sich bei ausreichender Lautstärke und geschlossenen Augen fast im Proberaum der Jungs, für modrigen Kellergeruch braucht es halt dann eine rege Phantasie. An dieser Aufnahme erkennt man jedenfalls die Spielfreude und das Gefühl, das die Band in ihre Songs legt. Alles in allem ist das hier ein 1A-DIY-Release, das sich sowohl Emopunks als auch Fans von klischeefreiem Deutschpunk auf den Plattenteller packen sollten!

8/10

Facebook / Bandcamp / Krachige Platten


Schwach – „Kälter“ (Upstartz Records u.a.)

Die Berliner Hardcoreband Schwach ist mir bis zur Besprechungsanfrage zu ihrem neuen Album tatsächlich vorher noch nie unter die Ohren gekommen, obwohl die Jungs wohl auch schon wieder fast zehn Bandjahre auf dem Buckel haben. Nun gut, veröffentlichungstechnisch ist der Output der Berliner auch nicht gerade üppig (ein Album, eine Handvoll EPs und eine Split), zudem war aus bekannten Gründen die letzten drei Jahre nicht viel mit schwitzigen Hardcore-Moshpits geboten. Mit Kälter legt das Quintett jetzt also Album Nr. zwei vor. Das Release ermöglicht haben die Labels Refuse Records und Upstartz Records, und nach kurzer Interessensbekundung an einer Besprechung des Albums kam auch schon ein paar Tage später ein liebevoll geschnürtes Paket mit dem guten Stück im 12inch-Format aus dem Hause Upstartz Records ins Haus geflattert.

Für das Albumcover wurde eine schwarz-weiß-Fotografie eines warm eingepackten Kindes gewählt. Wie man in den ausführlichen Linernotes des beigefügten und beidseitig bedruckten DIN A3-Sheets erfährt, handelt es sich bei der Fotografie um ein während der Nordirland-Unruhen aufgenommenes Foto aus dem Bildband „West Belfast 1985-1988“ von Mike Abrahams. Die angstvolle und skeptische Mimik des Kinds über die damalige Situation und den Zustand der Gesellschaft spricht Bände, übertragen in unsere derzeitige Lage rund um die Erde steht der Kummer und die Sorgen dieses Kindes stellvertretend dafür, was ja durch den Albumtitel noch verstärkt wird. Zusätzlich zu den Linernotes sind auf der Innenhülle die deutschsprachigen Texte (mit teils anderssprachigen Parts bzw. Guest-Vocals) abgedruckt. Und natürlich gibt es einen Downloadcode und ein Aufkleber mit dem Slogan Youth Crew Punk ist auch noch mit dabei. Das ist heutzutage bei den Papier- und Druckkosten nicht mehr selbstverständlich und unterstreicht deshalb nur nochmals die Wichtigkeit des Inhalts und das Herzblut der am Release beteiligten Menschen. Hardcore heißt wieder kämpfen, politische Inhalte, Gesellschaftskritik und eine optimistische Stimme gegen die Gesamtscheiße schienen in den letzten Jahren im Hardcorebereich leider immer unwichtiger zu werden und Schwach liefern durchaus reichlich klischeefreies Gedankenfutter und Kritik in diese Richtung.

Und sobald die Nadel aufsetzt, ist man dazu verdammt, den Lautstärkeregler der Anlage enorm zu erhöhen, denn das Geballer des Openers braucht Volumen! Geil, das Gebretter erinnert aufgrund der deutschen Texte mit Inhalt und natürlich aufgrund des derben Geschreis an Bands wie Hammerhead, Empowerment (bzw. Sidekick), Growing Movement oder Bombers From Burundi, die Youth Crew-Polit-Inspiration kommt dann von Bands wie Miozän, Nations On Fire oder Seein‘ Red. Energiegeladene Power, wütend und roh, super abgemischt (Tonmeisterei mal wieder), knackig und auf den Punkt! Obwohl das Ganze schön fett klingt (Gitarre, Bass, Drums und Gesang sind absolut gleichwertig abgemischt), merkt man den deutlichen Punk-Background der Berliner. Und das liegt nicht nur am Text zum Song Gedankenpalast, in dem einschlägige Bands wie Highscore, Schleim-Keim und Muff Potter Erwähnung finden, sondern durchaus auch am hardcorepunkigen Sound des Quintetts, den man im Verlauf des Albums zu hören bekommt. Außerdem wird nach dem Geknüppel des Openers gleich klar, dass die Jungs auch groovig können, zudem gefällt mir im Verlauf des Albums die Vielseitigkeit und die Fülle an Ideen, die aber nicht wild durcheinander Chaos erzeugen, sondern ausgeklügelt zusammengeschnürt ein komplexes Ganzes geben! Verdammt geil find ich z.B. das bei einigen Songs eingesetzte Saxophongedudel, das kommt ziemlich genial rum! Insgesamt sind zwölf Songs zu hören, die mit jedem Durchlauf weiter wachsen und dann auch irgendwann richtig gut ins Ohr gehen, so dass dem nächsten Circlepit mit Massenansturm auf’s Mikro eigentlich nichts mehr im Wege stehen dürfte. Und nach einem anstrengenden Tag mit viel menschlichem Müll läst es sich hierzu richtig gut abreagieren!

8/10

Facebook / Bandcamp / Upstartz Records


Cages – „Second Thoughts“ (Through Love u.a.)

Es gibt eine kleine Vorgeschichte zu diesem tollen Release…Es war noch zu Borderline Fuckup-Zeiten, als ich die Releases der aus dem Stuttgarter Großraum stammenden Band We Had A Deal gebührend abfeierte. Über die Jahre hinweg und auch schon teils auf Crossed Letters verfolgte ich die Bandmitglieder und deren neue Bandaktivitäten, Reznik Syndrom, Rêche, Mahlström und zuletzt Schönleben. Leider versäumte ich es, mir die via Through Love Rec. erschienene 12inch der Band Schönleben zu besorgen, bevor sie vergriffen war. Zum Trost erhielt ich damals, es war Ende 2020, bereits einen ersten Vorgeschmack in Form eines Songs auf die aus Mitgliedern der eben erwähnten Bands neu gegründete Band Cages. Der Song Every Dog Has Its Day hat mich damals wie heute direkt weggeblasen, so dass ich natürlich extrem gespannt auf die bald für das Jahr 2021 angekündigte Debut-EP der neu gegründeten Band Cages war. Naja, dann hat Covid19 doch noch mal dafür gesorgt, dass das Release erst Ende 2022 das Licht der Welt erblickte.

Und wow, das Warten war natürlich total doof, aber letztendlich macht sich sicher niemand mehr einen Kopf drüber, wenn die Nadel aufgesetzt hat und dieses Gewitter an Emotionen und Intensität losbrettert. Und dann ist da ja auch noch der optische Aspekt: die einseitig bespielte 12inch mit dem Siebdruck auf der B-Seite sieht so unglaublich schön aus! Die 12inch kommt mit einem siebbedruckten Cover, das Betasten und Drüberstreicheln macht echt mal gute Laune! Irgendwie denke ich beim Betrachten des Covers und des Vinyls an weißes Rauschen, Stuttgarter Innenhöfe kommen mir auch in den Sinn. Oh wie oft musste ich in solchen Innenhöfen unbedingt und absolut ohne Ausweg meine Notdurft verrichten! Lange her ist das, deshalb lieber mal Themawechsel: es gibt auch noch ein handliches DIN-A5-Textblatt, logischerweise ein bisschen kleingeraten und blöd für brillentragende Menschen. Aber wir wissen uns ja zu helfen!

Wie die Musik klingt, könnt ihr euch ja eigentlich selbst anhören. Trotzdem schildere ich mal mein Empfinden! Ich bin total glücklich mit dem Sound der Band. 90’s Emocore kann kaum besser klingen! Die Gitarren umwickeln Dich, obwohl sie gegen den Strich des Katzenfells streicheln. Dann gibt’s diese kraftvoll geknüppelten Drums, den verzweifelt und leidenschaftlich gebrüllten Gesang, der alle Emotionen umfasst. Wahnsinnig intensiv! Hier bin ich zuhause! Hier will ich immer sein! Oh ja, dann erfährst Du dieses wahnsinnig tolle Gitarrengedöns bei Someone Who’s Working Really Hard On Being Someone, und man wünscht sich direkt in den Proberaum der Band, um ein bisschen beim Falten der EP-Cover mitzuhelfen! Das gute Stück ist in Zusammenarbeit der DIY-Labels Through Love Rec., Middle-Man Records, Shove Records und Long Legs Long Arms erschienen.

9/10

Facebook / Bandcamp / Through Love Rec.


V.A. – „Youth Crew 2022 7inch“ (Seven Oaks Records u.a.)

Die Youth Crew-Compilation-Reihe startete im Jahr 2008, die einzelnen Veröffentlichungen erschienen im Zwei-Jahres-Rhythmus. Somit handelt es sich bei der 2022-er Version um den mittlerweile achten Teil der Reihe. Und nachdem das Ding im wellensittichfarbenen und durchsichtigen gelben Vinyl (es gibt auch noch eine Magenta-Version) einige Runden auf dem Plattenteller hinter sich hat, würden mich natürlich die bisher erschienen Teile ebenfalls interessieren.

Denn das kleine Scheibchen hat insgesamt acht Bands aus unterschiedlichen Ländern zu bieten, neben Stations aus Deutschland sind mir dank des auf Seven Oaks Records erschienenen Split-Tapes nur Last Gasp aus Ohio bekannt und das Niveau ist ziemlich hoch, soll heißen: das Ding ballert ordentlich und man hat mit einem Schlag acht Bands entdeckt, die genauer unter die Lupe genommen werden sollten! Aber so soll es ja auch sein, das ist die Funktionsweise einer Compilation: neue, oder auch alte Bands kennenzulernen, die einen äußerst freshen Sound auffahren! Und das tun alle der acht Bands, obwohl die Beteiligten womöglich weit entfernt von ihren jugendlichen Jahren sind. Ich muss ja zugeben, dass ich aus der Youth Crew- und Posi-HC-Szene ziemlich herausgewachsen bin, dennoch gab es in meiner HC/Punk-Sozialisation eine Phase, in der ich jedes Release förmlich aufgesogen hätte, wenn es zu der Zeit schon Internet-Streaming-Plattformen gegeben hätte. Anstatt dessen wurden bei einschlägigen Mailordern eben Compilation-7inches bestellt. Okay, aber Opa erzählt vom Krieg, also wieder volle Konzentration auf die vorliegende 7inch!

Das Ding ist in Zusammenarbeit der Labels Seven Oaks Records (D), Patient Zero Records (US) und Youth Authority Records (F) erschienen, und beim deutschen Label sind die Scheibchen auf 50 Stück (gelb/magenta) limitiert, also ist ranhalten angesagt! Ein Textblatt/Wendeposter mit Youth-Crew-typischem Artwork liegt ebenso wie ein Download-Code bei, Full Service also! Auf der A-Seite legt die argentinische Band xDistantex mit einem Smasher unter einer Minute los und ich bin direkt angefixt und finde mich Sekunden später schon auf der Bandcamp-Seite der Band wieder. Wütende female Vocals treffen auf explodierenden Oldschool-HC á la Uniform Choice, geil! Danach sind Urgent Kill aus den Niederlanden dran, der Vergleich zu Man Lifting Banner liegt nicht nur geographisch auf der Hand. VAXXX sind aus Kalifornien und auch in der Straight-Edge-Szene hat Corona Spuren hinterlassen, wie man anhand des Broken Edge-Texts erfährt. Stations beenden die A-Seite mit ihrem Highspeed-Hardcore, den Song kennt man bereits vom Split-Tape. Die B-Seite wird von Iron Deficiency aus Frankreich eröffnet. Dystopischer Hardcore, schön übersteuert, mit überschlagenden, keifenden female Vocals! One Step At A Time aus Belgien kommen dann mit melodischem US-Hardcore á la Champion, Ignite, Uniform Choice und Co um die Ecke. Ich mag den knödelnden Bass! Last Gasp aus den Staaten dann mit US-Oldschool-Sound im Stil von Count Me Out, Nerve Agents, In My Eyes oder Betrayed, da hüpft das sXe-Herz! Abschließend gibt es einen gnadenlos übersteuerten und oldschoolig anmutenden Song der österreichischen Band Alive Inside. Erinnert mich an die Proberaum-Aufnahmen und Konzerte befreundeter Bands in den frühen Neunzigern. Also, ihr seht schon, das hier ist eine äußerst gut gelungene Compilation!

Bandcamp / Seven Oaks Records


Flittern – „Album 2022“ (Unter Schafen Records u.a.)

Wenn alle um Dich herum irgendeinen seelischen Knacks und Kummer haben und sich deshalb in ihrer persönlichen Krise in Therapie begeben, dann wird es Zeit, etwas gegen die eigene Verzweiflung zu unternehmen. Was wäre besser, als sich mit Musik passiv zu berieseln lassen? Ja, genau: selbst eine Band auf die Beine stellen, kreativ werden, sich den Kummer von der Seele schreiben. Genau das hat die während der Pandemie in Köln gegründete Band Flittern unternommen. Und das Resultat klingt äußerst angenehm und ausgereift, was natürlich Fragen zur Vorgeschichte der Bandmitglieder aufwirft. Und siehe da, hier sind Leute am Werk, deren bisherige Bands natürlich auch bereits reichlich Beachtung bekamen. Das Trio setzt sich aus Seb (Gesang, Gitarre, Synthie) und Ernie (Bass, Gesang) -beide ehemals Hey Ruin – und Jan (Schlagzeug, Percussion) von KMPFSPRT zusammen. Das erklärt die Stimmigkeit dieses vielseitigen Debutalbums, das mit elf Songs und etlichen popkulturellen Zitaten keinerlei Ausfälle zu verbuchen hat.

Okay, beim Anblick des Fotos des Acrylgemäldes mit den aufgeschürften Knien schaudert man schon etwas, fühlt kurz den Schmerz vom Sturz mit dem Skateboard und der unfreiwilligen Knie-Bremse auf dem Asphalt. Dieses ungute Bauchgefühl kann aber erstmal schnell verdrängt werden, denn aus dem Inneren kommt eine mit den Texten bedruckte Innenhülle zum Vorschein, aus dieser leuchtet auch schon die durchsichtige und grellgelbe Vinylscheibe heraus. Und beim Aufsetzen der Nadel wird man direkt mit melodischem Emopunk umgarnt, so dass es problemlos gelingt, in dieses Werk mit Haut und Haaren einzudringen. Im Verlauf des Albums merkt man, wie abwechslungsreich und stimmig das Ding aufgebaut ist. Da sind diese melancholischen Gitarren, das mal treibende und groovende Zusammenspiel von Bass und Gitarre und diese zuckersweeten Synthies, die mich desöfteren an Bands wie die Get Up Kids oder The Anniversary denken lassen. Hört mal die beiden Songs Willst Du mit mir aussterben gehen und Alman Angst, das sind doch richtige Emo-Hymnen, die sich sofort im Ohr einnisten! Ach ja, und einfühlsamen und verletzlich klingenden Gesang gibt’s ja auch noch! Und Hits am laufenden Band! Aufgrund der deutschen Texte könnte man auch Bands wie Captain Planet und Love A als Referenz-Bands anbringen, was v.a. in Bezug auf die lyrische Qualität passt.

Denn nicht nur musikalisch ist ein Feuerwerk an 90’s Emo, Pop-Punk, Indie, Grunge und Post-Punk geboten. Auch mit den intelligenten Lyrics ist den Jungs genau die richtige Mischung aus Witz, Satire, Gefühl und jeder Menge Tiefgang gelungen, meilenweit entfernt von jeglichen Klischees. Hier ist oftmals auch 90er-Nostalgie und die Punk-Sozialisation in der deutschen Provinz zu spüren, womit ich ja selbst schon mitten drin im Thema stecke und mich mit solchen Gedankengängen absolut identifizieren kann. Hier bekommt ihr ein richtig gelungenes und authentisches Debutalbum zu hören, das voller Spielfreude, Herzblut und Kreativität steckt. Ich feier das Ding ab!

8/10

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Krav Boca – „Pirate Party“ (Santa Diabla)

Die aus Toulouse stammende Band Krav Boca kannte ich bis zum Erhalt dieses siebten Albums im 12inch-Format noch nicht. Die Band hat ihre Roots in Marokko und Griechenland, den Sound der Jungs würde ich unter Crossover verbuchen. Lasst euch aber von diesem ersten Eindruck keinesfalls abschrecken! Harte Riffs treffen auf HipHop, kennt ihr noch Such A Surge? Hihi, Schreck Nr. 2! Nur die französische Sprache und die verzerrten Gitarren haben mich zu diesem Scherz verleitet, obwohl ich Such A Surge zumindest in der Anfangsphase ganz gut fand. Aber vom Feeling her wäre eine Band wie Bérurier Noir an dieser Stelle aussagekräftiger, zumindest erinnert der blecherne Drumsound aus der Maschine und der politische Hintergrund in Verbindung mit den französischsprachigen Texten etwas an die Kultband! Oder ihr stellt euch die Frage, warum sich gleich 14 DIY-Labels an diesem Release beteiligt haben: Boca Records, Fire And Flames, MALOKA, Deviance, Santa Diabla, Radio Punk, Punk ’n‘ Loud Records, Dure Réalité, Rumagna Sgroza, DIY Koło, Up The Punx, Rebel Time Records, Krav Boca und Nothing To Harvest Records.

Zugegeben, das knallbunte Album-Artwork des Frontcovers fällt jetzt eher nicht in mein Vinyl-Beuteschema, dafür feier ich das pinkfarbene Vinyl und das stabile Textblatt ab, auf dem die französischen Texte sowie die englische Übersetzung zu lesen sind. Songtitel wie z.B. ACAB (Athens Calling Athens Burning), Nemesis, Abyss oder Control zeigen dann auch schon die Richtung, in die es geht. Es lebe die Revolution, Protest ist Pflicht! Die Band ist wohl bekannt für Piratenparties, illegale Shows gehören ins Repertoire der Formation. Auch kann es vorkommen, dass Gigs von Seiten der Band gecancelt werden, wenn Bands mit von der Partie sind, deren Werte mit den eigenen nicht vereinbar sind, hab ich mir vom Internet sagen lassen. Und natürlich schwingt in den Texten viel Wut und Ärger mit, was man – selbst wenn man die englische Übersetzung noch nicht gelesen hat – auch deutlich im aggressiven Geschrei vernehmen kann.

Neben den für Punk, Rap und Hip Hop üblichen Instrumenten kommt auch eine Mandoline zum Einsatz, was dem Sound ein gewisses Alleinstellungsmerkmal verleiht. Bei all dem wütenden Krach, den das Bandkollektiv da von der Kette lässt, schleichen sich durch die Mandoline auch immer wieder melancholische Momente ein. Es sind nicht nur die fetten Gitarren, die markanten Bässe und fieses Gebrüll, die Pirate Party zu einer spannenden Sache machen, sondern auch gerade die spürbare hibbelige Energie, die tanzwütig nach einer chaotischen Party-Meute schreit. Auch die ruhigeren Abschnitte wie beispielsweise bei Arraché wissen zu gefallen, zudem bleibt es durch die vielen Gastbeiträge immer schön spannend. Oder es kommt wie beispielsweise bei TN Punk ein rasanter Punksong mit Circlepit-Garantie oder wie bei Abyss eine absolute Mosh-Granate um die Ecke! Man merkt halt an jeder Note, dass hier Leute aus Überzeugung hinter dem stehen, was auf Pirate Party zu hören ist! Und womöglich ist es die letzte Party in einer dystopischen Apokalypse, die hier gefeiert wird! Und ich muss zugeben, dass sich das Ding hier mit jedem weiteren Durchlauf ganz schön in die Hörgänge bohrt!

8/10

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No Shelter. – „Erasing Life“ (Santa Diabla u.a.)

Schön schwer in der Hand liegt die 12inch, der düstere Linolschnitt auf dem Frontcover weiß auch gut zu gefallen. Mein Besprechungsexemplar kommt in flaschengrünem Vinyl, es gibt aber wohl auch noch Exemplare mit durchsichtigem Vinyl und Orange Splatter-Vinyl. Das zweite Album der im Jahr 2017 in Emsdetten gegründeten Band ist in Zusammenarbeit der Labels Santa Diabla, Backbite Records und Crawling Chaos erschienen. Ganz froh bin ich natürlich über das Textblatt, ohne welches man wahrscheinlich Mühe hätte, die Texte zu verstehen, obwohl diese trotz des aggressiven Gesangsstils recht deutlich zu verstehen sind.

In Anlehnung an das Gewicht der LP und des düsteren Artworks klingt auch der Sound brutal schwer und mehr als dunkel. Eine Walze an tonnenschwerem Hardcore, angereichert mit doomigem Sludge und etwas Metalcore, fährt kurz mal über Dich drüber, dabei verbeißt sich ein wütend und angepisster Höllen-Kampfhund aggressiv in Deinem Bein. Der Sänger klingt brutal und erinnert an einen extrem angepissten John Joseph in der Age Of Quarrel-Phase, die stimmliche Aggressivität lässt auch an diverse Sänger der Bands Cryptic Slaughter oder Erosion denken. Die Gitarrenwände werden gnadenlos hochgezogen und von einer mächtigen Rhythmusmaschine aus Drums und Bass begleitet, die absolute Zerstörung!

Und auch textlich geht es reichlich depressiv und angepisst zur Sache, der Weltschmerz trieft aus jeder Zeile. Der Blick in den Abgrund ist aber bei unserer weltlichen Gesamtsituation auch nicht abzuwenden, nebenbei bekommt all der Abschaum den Hass zu spüren, z.B. bei Nazi Scum oder dem einzigen deutschsprachigen Stück Sechs Hansa, zwei Kurze, in dem Spießer, verblödete Querdenker, die Staatsmacht und Sexisten ihr Fett wegkriegen. Für diese kaputte Menschheit gibt es auf Erasing Life jedenfalls absolut keine Sympathie. Wenn ihr also mal wieder ordentlich die Bude zerlegen wollt, dann eignet sich das hier bestens dafür! Mich hat das jedenfalls ordentlich weggeföhnt!

9/10

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Bandsalat: Counterparts, Frank From Blue Velvet, Rong Kong Koma, Spite House, Stray From The Path, Thinner

Counterparts – „A Eulogy For Those Still Here“ (Pure Noise Records) [Stream]
Kleiner Spoiler vorweg: die Kanadier bleiben ihrem Sound auch auf ihrem mittlerweile siebten Studioalbum absolut treu, bieten also genau das Futter, das Fans der Band so zu lieben gelernt haben. Produktionstechnisch und vom satten Sound her könnte man gerade meinen, dass diese Songs zusammen mit dem Material der Nothing Left To Love aufgenommen wurde. Die Einflüsse der Band sind auch hier wieder deutlich zu hören: mich erinnert das von der Stimmung her an Zeugs wie frühe Stretch Arm Strong, Strongarm, More Than Life, Saving Throw und Boy Sets Fire zur After The Eulogy-Phase. Nun denn, ein instrumentales Intro und zehn Songs in etwas über einer halben Stunde Spielzeit bringen das Melodic Hardcore-Herz zum Glühen, es ist eine wahre Freude, gerade auch weil in jedem Ton leidenschaftliche Spielfreude und Herzblut steckt! Das düstere und an den Albumtitel angepasste Artwork hat apokalyptische Schwingungen. Im Digipack findet sich übrigens ein Textblatt, was bei den hohen Druck- und Papierpreisen heutzutage viel zu selten vorkommt, vielen Dank dafür. Denn dass die Texte bei Counterparts von großer Bedeutung sind, müsste mittlerweile bekannt sein. Die dramatischen, schonungslos ehrlichen und emotionsgeladenen Lyrics erzeugen wie so oft ein mulmiges Gefühl, Abschied, schwindende Freundschaften, tiefe Abgründe und Trauer sind die Themen, immer ganz nah am Ende! Und dazu kommt die wie ein Feuerwerk explodierende Musik der Jungs. Schön wuchtig und brachial kommt das intensive Gebräu aus Melodic Hardcore und Post-Hardcore daher, dort ein Breakdown, hier ein Moshpart, hymnische Passagen, unterschwellige Melodien und sauber abgestimmte Songarrangements sorgen hier für dieses kurzweilige Vergnügen, das ruhig auch mal in Heavy Rotation abgespielt werden kann, ohne zu langweilen. Spannungsgeladen, abwechslungsreich und intensiv, ein durchaus klasse Album, ich liebe es jedenfalls!


Frank From Blue Velvet – „Selftitled“ (Property Of The Lost) [Stream]
Mit Country und Americana hab ich persönlich außer mit einigen Johnny Cash-Alben keine Berührungspunkte, daher war ich über den Erhalt des Digipacks der mir gänzlich unbekannten Band Frank From Blue Velvet zuerst skeptisch. Zu Unrecht, wie sich sogar bereits bei der ersten Hörrunde herausgestellt hat. Denn die Band aus Hastings/UK bringt in ihrem Sound auch noch andere Elemente mit ein (Blues, Punk, Rockabilly, Roots-Rock, Gospel und düstere Lounge-Bar-Sounds z.B.) und schafft so einen schön eigenständigen und alles andere als angestaubten Sound. Besonders gefallen mir die weiblichen Chorbegleitungen, die glasklaren Gitarren und der verspielte und eigensinnige Bass. Hört doch mal das ruhigere Each Night an, bezaubernd! Außerdem ist das Artwork des Digipacks und des „Textheftchens“ im Tarotkartenstil äußerst gelungen. Zwar sind die Texte zugunsten des Artworks nicht abgedruckt, aber im groben und ganzen geht es schön düster zur Sache, was bereits anhand der Songtitel (The Apocalypse Nears z.B.) erahnt werden kann. Riskiert also ruhig mal ein Ohr, wenn ihr euch eine düstere Mischung aus neueren Cash-Songs und Edwyn Collins vorstellen könnt, oder euch die Gospelpassagen von Zeal & Ardor sowie das Dead Kennedys-Cover von Faith No More (Let’s Lynch The Landlord) gefallen. Die Dead Kennedys werden übrigens von der Band auch live gecovert (Police Truck).


Rong Kong Koma – „Delfine der Weide“ (Rookie Records) [Stream]
Hach, die scheiß Berliner haben ihr’n Traum gelebt und pfeffern ’n zweites Album raus, während sie mal eben kurz unsere Mütter gefickt haben? Verdammt, ganz schön umtriebig! Und sie kommen dabei ’ne ganze Ecke poppiger rum als auf dem Debut. Steht den Jungs aber ganz schön gut! Die Gitarren schrammeln zwar immer noch eher indie-mäßig, der Bass knödelt auch superschön verballert, allerdings ist alles ein bisschen gediegener geworden. Gefällt aber trotzdem, v.a. weil die Stimme von Sebastian immer noch so tief, authentisch und berührend klingt. Pop-rotzig geht das hier zur Sache, Rio Reiser schwirrt dabei immer im Hinterkopf rum. Und beim vierten Song werde ich das erste Mal überraschend hellhörig! Das ist doch Apokalypse Vega (Acht Eimer Hühnerherzen), die da Gastsängerin ist! Sehr geiles Feature! Und dann kommt ein wenig später ein Hit namens 180 Sachen mit 80 Sachen um die Ecke. Und genau das ist es, was das Album ausmacht! Entschleunigung, Rhythmus und Melancholie, dazu Bass und gechillte Drums, die aber trotzdem ordentlich wumms haben. Und natürlich diese Gitarren, die auch schon bei Sonic Youth und Dinosaur Jr. funktionierten. Ach ja, und die Stimme in Kombination mit den philosophischen Lyrics (leider kein Textblatt bei der Promo-CD), das sind eigentlich die Hauptmerkmale dieser Band! Ganz schön geile Band, Reinhard Mey wäre hingerissen, v.a. beim letzten Song!


Spite House – „Selftitled“ (New Morality Zine) [Stream]
Das New Morality Zine hat mich schon länger am Wickel, da gibt es massig Zeug, das mich total in den Bann zieht! So auch die Anfang des Jahres erschienene 3-Song-Promo der kanadischen Band Spite House (damals angepriesen), die ein paar Monate später vor kurzem ihr Debutalbum am Start hatte. Und das ist verdammt geil geworden, 90’s Emocore und Post-Hardcore gepaart mit modernerem Sound und grungigen Parts, so könnte das ungefähr umschrieben werden. Die zehn Songs sind wahnsinnig mitreißend und intensiv! Ich liebe das Ding, das Album hat das Zeug zum Meilenstein! Hört da bitte rein, falls noch nicht geschehen! Und ja, mehr muss zu diesem Album eigentlich nicht gesagt werden. Rumhüpfen und Wohlfühlen!


Stray From The Path – “ „Euthanasia“ (UNFD) [Stream]
Die Band Stray From The Path lernte ich eigentlich erst durch ihr sagenhaftes Album Internal Atomics kennen, jetzt folgt seit ihrem Bestehen im Jahr 2001 mit Euthanasia ihr mittlerweile elftes Studioalbum. Und das toppt das 2019-er Album nochmals in puncto Wucht und Intensität, das Ding tritt während der Laufzeit von knapp 39 Minuten und zehn Songs ordentlich Arsch, Verschnaufpausen braucht es da nicht! Einzig das etwas grungig angehauchte Bread & Roses hat ein paar ruhigere Töne im Gepäck, zudem ist auch hier ein Gastbeitrag von Jesse Barnett zu hören (Stick To Your Guns). Ziemlich groovend und noch einen Ticken aggressiver als auf dem Vorgänger Internal Atomics kommen die vier Jungs mit ihrem Mischmasch aus metallischem Hardcore und Hip-Hop um die Ecke, dabei helfen wuchtige Gitarrenriffs, fiese Breakdowns, mächtige Moshparts und eine dampfmachende Rhythmusmaschine, die fette Produktion bläst auch ordentlich. Dazu passt natürlich das wutschnaubende Geschrei von Sänger Drew Dijorio, der stimmlich irgendwo zwischen einem extrem wütenden Zach De La Rocha und Jason Butler (Fever 333) liegt. Musikalisch kommen mir Bands wie eben Fever 333 – aber ohne deren melodischen Mitsing-Refrains -, Converge, moshige Boy Sets Fire, RATM oder Downset in den Sinn. Jedenfalls prognostizieren Albumartwork und Albumtitel eine gewisse finstere Stimmung, das Schaubild im Textheftchen und die Lyrics unterstützen dabei die musikalische Wucht von Euthanasia, die sicher auch durch die Frustration in der Pandemie angekurbelt wurde. Diese Pandemie brachte aber auch Möglichkeiten mit sich, so hatten Fans bei Twitch das Vergnügen, beim Entstehungsprozeß der Songs zuzusehen und kreative Tipps zu geben. Werdet härter war sicher ein Tipp. Kotzt euch über die gierige und schmierige Politik aus, das muss man den Jungs sicher nicht empfehlen. Denn Stray From The Path behandeln auch auf diesem Album vorwiegend gesellschaftspolitische Themen und regen dadurch hoffentlich ein bisschen zum Nachdenken an.


Thinner – „You Don’t Want Me“ (Midsummer Records) [Stream]
Festplattenputz zum Jahresende hin gehört ja schon zu meinen weniger geliebten Gepflogenheiten, aber hin und wieder stößt man dabei auf Sachen, die eigentlich schon längst vorgestellt hätten werden müssen. So auch das mittlerweile dritte Album der Berliner Band Thinner, das bereits im Juli erschienen ist. Für neun Songs brauchen die Jungs gerade mal eine Spielzeit von knapp 17 Minuten, ihr wisst also, wie der Hase läuft! Genau, er ist rasant, schlägt Haken, wirbelt ’ne Menge Staub auf und ist kaum einzufangen! Thinner machen ihre Sache wieder mal richtig gut, die knackige Mischung aus oldschoolig und amerikanisch geprägtem Hardcore und rotzigem Hardcore-Punk geht schön nach vorne und zaubert dabei die ein und andere Melodie aus dem Hut und mir damit ein breites Grinsen ins Gesicht. Die Jungs haben ihr Handwerk ja auch schon von jung auf gelernt! Die Einflüsse von Bands wie Dag Nasty, Grey Area, Spermbirds und Minor Threat sind deutlich zu hören! Die fette und saubere Produktion klingt auch geil, Gangvocals und spannungsgeladene Songarrangements runden das Ganze ab. Habt ihr übrigens neulich mitbekommen, dass irgendwo im Norden Chinas ’ne größere Schafherde zwölf Tage lang Circle-Pit-artig im Kreis gelaufen ist? Das ganze Netz rätselte über das Phänomen, es war die Rede von Teufelsbeschwörung und Aliens. Dabei hat wohl niemand daran gedacht, dass irgendjemand Thinners You Don’t Want Me in Dauerschleife gepackt hat und die Viecher dadurch angestachelt wurden. Hier stimmt die Balance aus energiegeladenem Hardcore, Melodie und rotzigem Hardcorepunk! Check, falls nicht eh schon geschehen!


Desolat – „Elegance Is An Attitude…To Shit On“ (Santa Diabla u.a.)

Ihr könnt euch sicher noch an die geil aussehende Picture-12inch mit dem Titel Songs of Love in the Age of Anarchy der Wiener Band Desolat erinnern? Ja genau, das ist diese eine kurz vor der Pandemie gegründete Band von vielen, die nach der dritten Show gedownlockt wurde und danach aber trotz der Umstände hartnäckig zwei EPs und aktuell dieses Album hier veröffentlicht hat. Hut ab für dieses Engagement! Angetrieben von unbändiger Spielfreude und verinnerlichtem DIY-Spirit konnte jetzt durch die Unterstützung der hilfsbereiten und geilen Labels Santa Diabla und Bloodshed666 Records dieses Album erscheinen.

Und nicht nur optisch geht es hier roh und direkt back to the roots. Wer braucht schon Farbe, schwarz-weiß hat mich persönlich schon immer fasziniert! Außerdem ist das noch die klimafreundlichste Art und Weise, etwas in den Druck zu geben, vielleicht sogar selbst zu drucken. Das Albumartwork kommt jedenfalls gut rüber, die tickende Uhr, der kapitalismuskritische Albumtitel und das auf dem Backcover abgebildete Layout zwischen Schere, Klebstoff und Fotokopie gefällt mir ganz gut. Und ich lese wieder mal den Namen Lisl Matzer, die hier auch wieder ihr künstlerisches Talent eingebracht hat. Nun gut, die 12inch gleitet wie von selbst aus der gefütterten schwarzen Innenhülle. Schade ist eigentlich nur, dass kein Textblatt beigefügt ist, war ja auch schon beim letzten Release nicht dabei. Es lässt sich zwar aus den Songtiteln ableiten, in welche Richtung es wohl lyrisch geht, auch die Musik lässt Schlüsse zu, dass hier viel Wut und Aggression verarbeitet wird. Gesellschaftskritische und antikapitalistische Themen sind zweifelsfrei zentrale Themen. Angesichts des schwer verständlichen Gebrülls wäre aber ein Textblatt trotzdem sicher alles andere als verkehrt gewesen.

Okay, aber genug gemeckert. Denn sobald die Nadel das Vinyl berührt, dröhnt es bei laut aufgedrehtem Sound ordentlich satt aus den Lautsprechern. Fette Gitarren, böses Geschrei, das ziemlich nah am Death-Metal ist, hämmernde Drums und zerstörerische Noise-Attacken dominieren das Gesamtbild des Sounds, trotzdem sind aber noch melancholische Untertöne und melodische Ansätze vorhanden. Schleppender Hardcore, düsterer Anarcho-Punk, Death-Metal, Stoner, Sludge, Doom, Crust und Noise sind die Bausteine, die Geschwindigkeit braucht es gar nicht, trotzdem taucht sie an der ein oder anderen Stelle unerbittlich auf. Aber hauptsächlich sind die Songs im Midtempo angesiedelt, dabei wummern sie ordentlich und haben auch so’nen geilen oldschool-Groove, den man von Bands wie Black Sabbath, Possessed oder Venom kennt. Wer’s gern etwas derber hat, ist hier richtig gut aufgehoben!

8/10

Bandcamp / Santa Diabla / Bloodshed666 Records


Bandsalat: Buried Lights, Futbolín, Get The Shot, Plein De Vie, Pabst, RXPTRS

Buried Lights – „Modern Ruins“ (DIY) [Stream]
Schön roh und räudig, dabei aber tief emotionsgeladen kommt der Sound der Band Buried Lights aus Detroit/Michigan daher. Neulich bei Bandcamp drauf gestoßen und direkt hängen geblieben. So in etwa könnte ich mir die Promo der Band vorstellen: Der große Bruder ist ein blödes Arschloch und spielt bei einer geilen Punk/Emo-Band, die bei allen schon etabliert und beliebt ist? Scheiß drauf, wir sind viel authentischer! Und damit auch viel geiler! Und das nur mit drei Songs! Ich geb zwar nix auf Promotexte, aber das hier würde mich echt überzeugen!


Futbolín – „Moped Xperience“ (Konglomerat Kollektiv) [Name Your Price Download]
Aufmerksame Menschen kennen die Band aus Italien bereits aus einer früheren Bandsalatrunde. Was die Jungs jetzt mit ihrer dritten EP vom Zaun brechen, ist eigentlich der absolute Wahnsinn! Rumflippen! Durchdrehen! Der absolute Oberhammer! ADHS meets Melancholie & Emo. Was soll man da noch groß schreiben, hört euch das selbst an! Ich jedenfalls feier die Band und auch die Konglomerat Kollektiv-Leutz kräftig ab!


Get The Shot – „Merciless Destruction“ (Useless Pride Records) [Stream]
Die erste EP der kanadischen Band Get The Shot erschien im Jahr 2009 noch in Eigenregie, bis heute sind auf verschiedenen Labels drei Alben gefolgt, Merciless Destruction ist nun Streich Nr.4. Da mir der bisherige Output der Band gänzlich unbekannt war, hab ich mal die verschiedenen Alben kurz angetestet. Anfangs klang die Band noch nicht so metallisch und ging eher in die Youth-Crew-Ecke mit schnellerem angepissten Hardcore-Punk, dann schlichen sich immer mehr Thrash- und Metalcore-Elemente in den Sound. Was jedoch immer vorhanden war und auch ist, ist die pure Energie und die aufschäumende Wut, die man auch dem Sound des aktuellen Albums entnehmen kann. Auf Merciless Destruction gibt’s dann deftigen Walzensound auf die Ohren, massig brachiale Beatdowns, quietschende Gitarren, fette Mosh-Parts, groovende Passagen, Death-Metal-mäßige Shouts und tonnenschwere Riffs sind auch mit von der Partie. Da wird es etliche Bands geben, die den Sound beeinflusst haben, beispielsweise Earth Crisis, Machine Head, Exhorder, Morning Again oder Integrity. Die Metal-Vorliebe ist auch im blutrünstigen Artwork deutlich zu sehen. Jedenfalls sind die Jungs schön abwechslungsreich unterwegs und wagen auch das ein oder andere nicht vorhersehbare Experiment. Gastbeiträge sind dann auch noch dabei, u.a. Matthi von Nasty. Fettes Ding, gnadenlose Zerstörung! Und jetzt schnell die Bude kurz und klein hauen!


Plein De Vie – „Koltuk De​ğ​neklerinden Kanatlar Yapmak“ (I.Corrupt Records) [Name Your Price Downoad]
Es war ein paar Wochen vor 9/11 als ich das erste und bisher einzige Mal in ein Flugzeug einstieg. Der Grund war die Hochzeit meines Bruders, welche in Ankara stattfand. Warum mir das ausgerechnet jetzt in den Sinn kommt? Nun, Ankara ist die Stadt, in der sich die Band Plein De Vie gegründet hat. Und jetzt kommt mein damaliger Eindruck dazu: die Stadt war ziemlich abgefuckt, auf Punk-oder Hardcore-Venues bin ich während meines Aufenthalts und vorheriger Recherche leider nicht gestoßen, beeindruckend blieben unfallrisikoreiche Taxifahrten, teure Minibar-Hotelrechnungen und Flohmärkte mit reichlich Hehlerware. Vielleicht ist das mit der Punkszene heutzutage ja anders, denn Plein De Vie hauen ordentlich auf den Putz und klingen dabei so, als ob sie schon jahrelang der Undergroundszene angehören würden.


Pabst – „Crushed By The Weight Of The World“ (Ketchup Tracks) [Stream]
Die Fotografie, die das Albumcover ziert, strotzt vor Spannung und Energie und bereitet euch schon mal darauf vor, was ihr in den folgenden 36 Minuten und den zwölf Songs zu erwarten habt! Und das ist eine ziemlich energiegeladene Achterbahnfahrt, die Dich schwindelig und nassgeschwitzt mit vom Wind zerzausten Haaren, abgekauten Fingernägeln und klingelnden Ohrgeräuschen am Ende der Bahn wieder ausspuckt. Und obwohl es so rasant zuging und der Adrenalinkick einige Zeit ausreichen würde, stellst Du Dich gleich wieder für eine neue Runde an! Wahnsinn, wie perfekt und satt dieses Album klingt! Bereits der Opener drückt Dich mit dreckigem Sound gegen die Wand, dabei darf es aber keinesfalls an Eingängigkeit fehlen. Auf ihrer ersten Tour hatte ich mal das Vergnügen, die Band live zu erleben. War total beeindruckend, was die drei Typen da für einen Mördersound und ’ne bombastische Show abgeliefert haben! Und ja, diese Live-Energie ist auch in den Songs dieses Albums zu spüren! Natürlich ist der Sound der Jungs tief im Alternative-Universum der Neunziger verankert, dennoch klingt das hier alles andere als angestaubt. Die Gitarren hüpfen, das hier ist frisch und voller Spielfreude, Leidenschaft und Energie! Im Digipack findet sich dann auch noch ein hübsch illustriertes Textheftchen im schwarzweißen und Schere+Klebestift angefertigten Copystyle, das hätte man in dieser Form auch gut in Kultalben der Neunziger finden können. Popkultur scheint der Band also nicht nur musikalisch auf den Leib geschneidert zu sein! Ein rundum gelungenes Album, ich bitte um Beachtung und Hingebung!


RXPTRS – „Living Without Death’s Permission“ (Metal Blade Records) [Stream]
Bei den ersten Klängen dieses Debutalbums der Band RXPTRS aus Bristol/UK wurde ich direkt an einen im Gedächtnis eingebrannten Abend irgendwann kurz nach der Jahrtausendwende gebeamt. Irgendwie ging es auf irgendein Hardcorekonzert. Normalerweise fiel der Kutscherjob zu dieser Zeit entweder auf meine Liebste oder mich, daher waren wir höchst über den Fahrdienst eines Kumpels erfreut und konnten dementsprechend dem Alkohol zusprechen. SLSK sei Dank, lernten wir in dieser Zeit auch irgendwann die Band BXLLY TLNT kennen und rockten zum partybedingten Vorglühen zu den Songs des selbstbetitelten Albums so dermaßen ab, dass ich gar nicht mehr weiß, welches Konzert wir im Anschluss besuchten. Warum nimmt diese eben erzählte Story mehr als ein Drittel des Textes dieses Reviews ein? Keine Ahnung! Aber RXPTRS machen einen genauso mitreißenden Sound, wie wir das damals bei Songs wie Try Honesty oder Living In The Shadows gefühlt haben. Geile, fette Gitarrenriffs paaren sich mit kraftvoll geprügelten und groovenden Drums, tolle Melodien und catchy Refrains sind ebenfalls am Start. Und dann ist da diese Stimme und diese Melancholie, die man im Sound der Band ab dem ersten Ton wahr nimmt. Absolut erfrischend!


Soma – „If You See Me…(Let Me Be)“ (Pike Records u.a.)

Vorsicht, bei dieser Band handelt es sich nicht um die Mitte der Neunziger aktive Band gleichen Namens, die Mehr Wut-7inch kam mir direkt bei der Mailanfrage aus dem Hause Pike Records in den Sinn. Mittlerweile liegt mir die 12inch vor, zudem hab ich recherchiert, dass diese Band hier zwar in einem ähnlichen Genre unterwegs ist, aber nicht aus Deutschland sondern aus Penzance kommt, der laut Wikipedia angeblich ersten plastikfreien Stadt Englands. Im Zuge meiner Recherche habe ich in Erfahrung gebracht, dass die vier Jungs zuvor in etlichen Bands unterwegs waren, unter anderem dürften euch Bands wie beispielsweise Crows-An-Wra, Ravachol, We Came Out Like Tigers, Crocus, Goodtime Boys und No Omega mehr oder weniger bekannt sein. Also mal wieder rein Namedropping-mäßig ein richtig dickes Ding! Und bevor ihr jetzt weiter unten lest, dass musikalisch genau die Qualität zu erwarten ist, was diese Auflistung an Bands verspricht, muss ich aber erst noch das Drumherum kräftig abfeiern! Ach ja, und die Band hat übrigens erst während des ersten Lockdowns 2020 erste Schritte getätigt, umso erstaunlicher, dass trotz der Vinylkrise bereits diese acht Songs so perfekt im Endresultat vorliegen.

Ganz plastikfrei kommt eine Vinylscheibe natürlich nicht daher. Okay, der war jetzt fies, harr harr! Trotzdem ist das Albumartwork sehr naturverbunden! Auf dem kleinen Bildausschnitt sind Barfüße abgebildet, die vor einem Fenster in den Nachthimmel ragen. Die Bäume, die Kirchturmspitze und das hell leuchtende Kreuz lässt der Phantasie freien Lauf, denn bei kindlichem Betrachtungsgeist sehen die Bäume und Sträucher wie ein Ritter auf einem Pferd aus. Ich sprech diesen sicher nicht freundlich gestimmten Kerl aber lieber mal nicht an und folge der Empfehlung des Album-Titels. Viel lieber fische ich die einseitig gepresste 12inch aus der Hülle und komme dabei ins Staunen aufgrund des wunderschönen Siebdrucks auf der B-Seite der Platte. Hier sind Pflanzen/Blumen abgebildet, eine bildlichere CO₂-Kompensation könnte man kaum treffender darstellen! Ich liebe es! Auch wenn es kein Textblatt gibt, muss darauf nicht verzichtet werden, die Lyrics sind nämlich allesamt auf dem Backcover abgedruckt.

Übrigens sind an diesem DIY-Release etliche namhafte DIY-Labels beteiligt, die ich größtenteils schon seit Ewigkeiten ins Herz geschlossen habe: Pike Records, Dingleberry Records, Boslevan Records, Left Hand Label, Clever Eagle Records und Desperate Infant Records haben dieses Juwel an den Start gebracht! Danke dafür! Denn auch musikalisch lässt das Album die Synapsen tanzen! Zwischen Emotive Screamo und Post-Hardcore tobt hier der intensive Sturm der Gefühle! Verzweiflung, Wut, Trauer und Resignation. Entsetzen über unsere zum Abnippeln verdammte Welt. Einfach nur wow, man wird direkt mitgerissen von der Wucht und der Intensität! Und das ab der ersten Sekunde, ein Sturm der Gefühle! Die Gitarren fesseln von Beginn an und lassen Dich nicht mehr los, dazu dieses wilde und ungestüme Getrommel und die verzweifelt rausgebrüllten Vocals, eine wahre Freude für alle Screamofans. Warum Isolation vielleicht manchmal besser als Konfrontation ist, kann man mit diesem Ding hier einfach mal locker flockig erfahren!

9/10

Bandcamp / Pike Records


Colored Moth – „Inertia“ (Moment Of Collapse) [Stream]

Moment mal, dieses Release wurde doch bereits in einer der letzten Bandcamp-Runden vorgestellt und abgefeiert! Sind das schon erste Anzeichen von Demenz? Keinesfalls, denn damals gab es das Album nur digital, mittlerweile hat mir die Band nach sympathischer Mailkonversation ihr Meisterwerk auf Vinyl zukommen lassen. Luftsprung! Denn gerade auf Vinyl entfaltet Inertia diese extrem magische und perfekte Dichte, die wahnsinnige Intensität und Spannung der Songs ist hier noch deutlicher und lebendiger zu spüren als beim rein digitalen Genuss. Und genau darum sehe ich die Notwendigkeit, meinen damaligen Bandsalat-Text noch etwas aufzumotzen und zu verfeinern. Denn Inertia ist – wie die bisherigen Releases der Band – schon jetzt ein absoluter Meilenstein in Sachen Post-Hardcore made in Germany. Hartnäckiges Wachrütteln ist hier einfach Pflicht! Das hier ist ein echter Leckerbissen für Leute, die auf 90’s infizierten Post-Hardcore, Noise, Screamo oder Emocore stehen!

Das Coverartwork wirkt geheimnisvoll und aufgrund der kalten Farben etwas düster, ich verbinde damit Wellen, Schallwellen, Impulse oder gebrochenes Licht, das durch eine gefrorene Wasseroberfläche schimmert. Automatisch kommen dabei natürlich Gedanken auf, wie das Artwork in Verbindung mit dem Albumtitel stehen könnte. Inertia bedeutet übersetzt soviel wie Trägheit, eigentlich ein Begriff aus der Physik. Ein Objekt setzt seine aktuelle Bewegung so lange fort, bis irgendeine Kraft eine Änderung der Geschwindigkeit oder der Richtung bewirkt. Zudem beschreibt das Wort auch einen Zustand, in dem auch ich mich oft befinde, gerade aufgrund negativ einprasselnder äußerer Einflüsse, die mich lähmen. Und gibt es dann einen positiven Impuls, wie dieses Album hier, dann krieche ich aus meiner Höhle hinaus und raffe mich auf, zum Leben erweckt. Vom Sound wachgerüttelt muss ich da einfach in die Gänge kommen. Und ja, sobald die A-Seite durchgelaufen ist, wird zum Plattenspieler gerannt, Platte umdrehen! Ach ja, diese befand sich übrigens vor dem Auflegen in einer schlichten, schwarzen Innenhülle. Und dann gibt es da noch ein auf transparentes Papier gedrucktes Textblatt. Sieht klasse aus, außerdem sind die Texte ebenfalls von großer Bedeutung, siehe weiter unten. Hier lässt sich auch nachlesen, dass Nicole aka Luminescent. beim Song New Blueprint Vocals beigesteuert hat.

So, und jetzt kann ich endlich mal die Copy and Paste-Funktion beim eigenen Geschreibsel anwenden, fühle mich dabei aber alles andere als träge. Denn nach etlichen Vinyl-Hörrunden bin ich erfreut, dass dieser damalige erste Eindruck genau das wiederspiegelt, was hier in physischer Form in den Händen liegt und sich tief in die Hörgänge gefressen hat. Hier also mal ein Auszug meines damaligen Beitrags zum Bandsalat. Hätte ich zwar auch verlinken können, aber diese verdammten Klicks kosten unheimlich viel Energie: Dass Colored Moth der absolute Geheimtipp in Sachen Post-Hardcore/Noise/Screamo aus Deutschland ist, könnte mit diesem Release – dem mittlerweile dritten Album der Berliner – bald der Vergangenheit angehören. Drei Alben hintereinander auf sehr hohem Niveau abzuliefern, das muss man erst mal drauf haben. Zehn Songs voller hibbeliger Anspannung sind es diesmal geworden. Und diese kommen gewohnt dicht, druckvoll, verschachtelt, aber immer präzise durchdacht um die Ecke. Die verzweifelt gescreamten Vocals dringen direkt ans Herz, wobei das mächtig groovende Gewitter aus knarzendem Bass und wuchtig gespielten Drums immer wieder von einer einprägsamen Gitarrenmelodie oder einer auftürmenden Noise-Wand begleitet wird. Wahnsinnig intensiv! In den Texten geht es um kritische Sicht auf die Gesellschaft, es werden beispielsweise patriarchale Machtstrukturen und toxische Männlichkeit angeprangert, Entfremdung und Abhängikeit von materiellen Werten sowie Existenzängste sind ebenfalls Themen. Also durchaus auch Food for Thought neben der musikalischen Vielfalt der Songs! Mit knapp 28 Minuten Spielzeit ein weiteres Hammeralbum der DIY-Band! Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen, volle Punktzahl!

10/10

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Chivàla – „EP II“ (Pike Records u.a.)

Was kommt denn da für eine Schönheit mit dem Päckchen aus dem Hause Pike Records ins Haus geflattert? Rein optisch ist die einseitig gepresste 12inch schon ein richtiger Hingucker! Das Backcover ist rund ausgestanzt, so dass der Blick auf die mit einem Blumenartwork besiebdruckte B-Seite frei wird. Anhand eines Songtitels erfährt man dann auch, dass es sich bei den abgebildeten Blümchen um Primeln handelt. Primeln stehen ja symbolisch für die Jugend, die Unschuld und die Hoffnung, also schon einmal ein erster Hinweis, dass sich die Band hier tiefere Gedanken gemacht hat. Das Front- und Backcover-Artwork mit dem Kaninchen als wiederkehrendem Element sieht auch fantastisch aus. Auch das Kaninchen hat einen symbolischen Hintergrund, es steht für die Wiedergeburt und Auferstehung, für den Neuanfang. Und dann ist da auch noch ein aufklappbares Textblatt, hier erfährt man dann, dass neben Pike Records eine ganze Latte an DIY-Labels am Release beteiligt sind, ich zähle auf: Shove Records, Yoyodyne, Clevereagle Records, Boslevan Records, zilpzalp records, Smellycatrecords, Les Disques Rabat Joie.

Chivàla, ein Quartett aus Bari/Italien, lernte ich erst durch diese zweite EP kennen und lieben, bisher ist mir die Band förmlich durch die Lappen gegangen, obwohl bereits zwei Split-Releases und eine EP erschienen ist und die Jungs auf dem Miss The Stars-Festival 2019 gespielt haben. Und natürlich haben die beteiligten Musiker bereits zuvor in anderen Bands gezockt (Minus Tree, Gingko Dawn Shock, Istmo). Und jetzt sind da also diese vier Songs, die zwischen Melancholie und Intensität eine äußerst spannende Stimmung erzeugen. Gesungen bzw. verzweifelt gescreamt wird in italienischer Sprache. Schön, dass im Textblatt auch eine englische Übersetzung abgedruckt wurde. Denn so erfährt man von den sehr persönlichen Themen, in denen Ängste, Sorgen und Vergänglichkeit eine zentrale Rolle spielen. Inwieweit da die schmerzhaften Erfahrungen aufgrund der Covid19-Pandemie verarbeitet wurden, kann nur vermutet werden. Jedenfalls bin ich mir spätestens beim Lesen der berührenden Lyrics sicher, dass die Eingangs beschriebene Symbolik im Artwork bewusst gewählt wurde. Sehr schön!

Wie bereits ein bisschen gespoilert, sind die vier Songs reich an Intensität und Melancholie. Hier wird extrem gelitten, die Gitarren kommen schön melodisch und verspielt, dazu passen perfekt die druckvoll gespielten Drums und das verzweifelte Geschrei. Die ruhigeren, zurückgenommeren und teils mit Spoken Words versetzten Passagen bauen diese wahnsinnige Spannung auf, dazu gibt es einen melodisch gegenspielenden Bass und in sich stimmige Songstrukturen. Und auch die aufkeimende Hoffnung ist aus manchen Passagen deutlich rauszuhören. Musikalisch ist die Band irgendwo zwischen emotive Post-Hardcore, Emocore und Screamo zu verorten, es bleibt jedoch eher im Midtempo, was zusätzlich tief berührt. Ein wahnsinnig emotionales und äußerst gelungenes Werk, das hier kommt direkt aus dem Herz, Lieblingsplatte!

10/10

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