Grow Grow – „Lichterloh“ (DIY)

Die Berliner Band Grow Grow wurde aufgrund ihrer bisherigen Releases an anderer Stelle ja bereits gebührend angepriesen, daher freut es mich ungemein, dass sich die Band offenbar an die Rezensionen erinnert hat und nach kurzer und netter Mail-Konversation auch schon die neue 12inch per Post ins Haus flattert. Da Sänger und Gitarrist Martin auch noch bei erai involviert ist, liegt dem Päckchen auch gleich noch neben einem handgeschriebenen Brief deren aktuelle EP im 12inch-Format bei (falls noch nicht gesehen: hier geht’s zur Kritik). Aufgrund Verzögerungen im Presswerk gibt es das selbstreleaste Album erstmal ’nur‘ als Notfall-Auflage auf 140g, später wird das Ding im schweren 180g-Vinyl erhältlich sein. Nun ja, 40g mehr oder weniger werden jetzt wohl keinen klanglichen Unterschied ausmachen, zumal die Tonmeisterei mal wieder satt geliefert hat. Seit Bandgründung ergaben sich in den letzten Jahren übrigens bei der Band immer wieder Besetzungswechsel, mittlerweile ist die Bandbesatzung entgegen des wachstumsversprechenden Bandnamens von einem Quartett auf ein Trio geschrumpft.

Äußerlich sieht die 12inch schon mal sehr wertig aus. Das schlichte Coverartwork wirkt mit seinem aus Treibholz gebastelten Segelboot schön edel, auf dem Backcover gibt’s dann noch ein Polaroid-Bandfoto zu sehen. Ha, das Dead Moon-Shirt habe ich auch! Im Inneren fasziniert das bunte und collagenhafte Textblatt. Zwischen Grafiken aus Pflanzenbestimmungsbüchern und antiken Kinderbildern ist hier (vielleicht in Anlehnung an den Bandnamen) das Wachstum zentrales Thema. Textlich geht es in deutscher Sprache poetisch und tiefgründig zur Sache, es gibt auf jeden Fall viel Interpretationsspielraum. Ein großes Thema ist Vergänglichkeit, Verlust und Trauer, der Kampf mit den inneren Dämonen und persönliche Kindheitserinnerungen sind die begleitenden Weggefährten. Es kommen aber auch gesellschaftliche Probleme und politische Inhalte zur Sprache, Manipulation, autoritäre Machtsysteme und der Klimawandel werden ebenso verarbeitet. Eine meiner Lieblingszeilen aus dem Song Bravo Bravissimo bringt’s ganz treffend auf den Punkt: „Ein SUV parkt unter’m Heizpilz, eine Kreuzfahrt in die Arktis“. Auch wenn ich mich wiederhole: nach der Pandemie wäre es doch jetzt schön, wenn es wieder mehr regionale Subkultur mit heimischen DIY-Bands wie Grow Grow oder auch die neulich besprochenen erai geben könnte, auch wenn durch die Pandemie und die foranschreitende Gentrifizierung viele Läden das Zeitliche gesegnet haben. Wir brauchen keine Bands aus Übersee, die für drei käsige Shows einen klimaschädlichen Atlantikflug verbraten.

Musikalisch bekommt ihr ein intensives Gebräu aus Post-Hardcore, Punk, Noise, Math-Rock, Screamo, Post-Rock, Post-Punk und Emocore auf die Ohren! Die Songarrangements sind spannend und stimmig gehalten, so dass im Verlauf der sieben Songs und in einer Spielzeit von 35 Minuten keinerlei Langeweile aufkommt. Das laut/leise-Zusammenspiel dient hervorragend dem Spannungsaufbau, der wie eine groovig-noisige Wand anwächst, bis er im heftigen Noise-Ausbruch gipfelt. Bei Mit Piranhas im Pool ist sogar eine fast in Blackmetal-abdriftende Passage mit wildem Getrommel zu hören. Man hört hier einfach aus jedem Ton die unbändige Spielfreude und Leidenschaft des Trios heraus. Ganz viel 90’s-Spirit hat dieser wuchtige Sound an Bord: dort ein knackiger Groove, genügend kantige Ecken und melancholische Momente und dazu noch eine unglaublich pulsierende Energie. Wahnsinn! Wenn ihr Bands wie Shellac, Jesus Lizard, At The Drive-In, Craving , Ten Volt Shock, Buzz Rodeo, Drive Like Jehu und Fugazi zu euren Faves zählt, dann dürfte euch der Sound von Grow Grow ebenfalls zusagen. Bleibt nur die Frage, ob ihr wirklich auf die 40g schwerere Scheibe warten wollt, oder ihr euch das Ding hier gleich krallt!

9/10

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